Die Frau aus Alexandria
»Da hat sich nichts geändert!«
Charlotte lächelte sie an. »Doch. Früher haben Sie immer behauptet, ich hätte gar keins.«
»Willst du etwa zulassen, dass man mich in deinem Hause kränkt?«, fragte die alte Dame Emily.
»Ich glaube eher, dass Charlotte die Gekränkte ist«, korrigierte Emily. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen, und sie musste sich große Mühe geben, es zu unterdrücken.
Die alte Dame knurrte: »Nun, in dem Fall hätte sie sich das selbst zuzuschreiben. Wer hat sie denn gekränkt? Sie verkehrt in den niedersten Kreisen, und ich nehme an, das ist alles, wozu sie fähig ist. Das kommt davon, wenn man unter seinem Stand heiratet. Ich habe gleich gesagt, dass aus dieser Mesalliance nichts Gutes werden kann – aber wolltest du auf mich hören? Natürlich nicht. Siehst du jetzt, was dabei herauskommt? Allerdings kann ich mir schlechterdings nicht vorstellen, was Emily deiner Ansicht nach daran ändern könnte.«
Charlotte platzte vor Lachen heraus, und nach kurzem Zögern stimmte Emily mit ein.
Zwar begriff die alte Dame nicht, warum die beiden lachten, doch war sie keinesfalls bereit, das zuzugeben. Nach kurzem Überlegen kam sie zu dem Ergebnis, dass sie am wenigsten zu verlieren hatte, wenn sie mitlachte, und so stimmte sie mit einem sonderbar krächzenden Geräusch ein, das Emily seit Jahren nicht gehört hatte, obwohl die Großmutter bei ihr im Hause lebte.
Sie blieb noch etwa zehn Minuten, dann erhob sie sich und humpelte hinaus, obwohl sie in Wahrheit vor Neugier verging, den Grund für Charlottes Besuch zu erfahren. Offensichtlich war aber keine der beiden Enkelinnen bereit, ihr den von sich aus mitzuteilen, und danach zu fragen hielt sie für unter ihrer Würde.
Kaum hatte sich die Tür hinter ihr geschlossen, als sich Emily eifrig vorbeugte. »Nun«, fragte sie, »was ist mit der Alltagskost, die dich so beschäftigt?«
»Gracie hat eine Freundin namens Tilda Garvie«, begann Charlotte, »deren Bruder Martin Kammerdiener beim jungen Garrick ist. Wie man mir gesagt hat, lebt die Familie am Torrington Square. Die beiden Geschwister stehen einander sehr nahe, seit sie mit sechs beziehungsweise acht Jahren Vollwaisen geworden sind.«
»Und?«, fragte Emily mit verständnislos geweiteten Augen.
»Man hat Martin Garvie zum letzten Mal vor vier Tagen gesehen. Garricks Butler hat Tilda, die sich nach ihrem Bruder erkundigte, zwar mitgeteilt, dass er sich nicht mehr im Hause befindet, war aber weder bereit, etwas über seinen Verbleib zu sagen, noch einen Grund für sein Verschwinden zu nennen.«
»Ein Kammerdiener wird vermisst?« Nichts in Emilys Stimme verriet, was sie empfand.
»Ein Bruder«, verbesserte Charlotte sie. »Wichtiger aber als seine bloße Abwesenheit dürfte sein, dass er sich nicht einmal zu Tildas Geburtstag gemeldet hat. Den aber hat er, wie sie sagt, noch nie zuvor vergessen. Sie ist überzeugt, dass er auf jeden Fall eine Möglichkeit gefunden hätte, ihr seinen Aufenthaltsort mitzuteilen – sogar dann, wenn er seine Anstellung und damit seine Unterkunft eingebüßt hätte oder die Umstände, unter denen er das Haus verlassen musste, beschämend oder ehrenrührig waren.«
»Und was vermutest du also?« Emily runzelte die Stirn. Dann fügte sie hinzu: »Haben die Garricks Vermisstenanzeige erstattet?«
»Das weiß ich nicht«, gab Charlotte ungeduldig zur Antwort. »Ich kann ja nicht gut zur nächsten Polizeiwache gehen und fragen. Sollte das aber der Fall sein: Warum hat man das Tilda nicht einfach gesagt, damit das arme Mädchen Bescheid weiß und sich nicht grämen muss?«
»So würden sich vernünftige Mensch verhalten«, stimmte Emily zu. »Aber nicht alle Leute sind so vernünftig, wie man annimmt. Es überrascht mich immer wieder zu sehen, wie Menschen den gewöhnlichsten Alltagsverstand vermissen lassen. Mal sehen, wie viele weitere Möglichkeiten es gibt.« Sie hielt die Finger hoch, um abzuzählen. »Könnte man ihn wegen Unehrlichkeit entlassen haben? Ist er mit einer Tochter aus gutem Hause durchgebrannt oder, schlimmer noch, mit der Gattin eines anderen? Mit einem Dienstmädchen oder einer Straßendirne?« Sie nahm die andere Hand zu Hilfe. »Hat er womöglich Schulden und muss sich vor seinen Gläubigern verstecken? Oder, die schlimmste aller Möglichkeiten: Hatte er einen Unfall, ist er überfallen worden und liegt jetzt irgendwo tot, ohne dass jemand weiß, wer er ist?«
Auch Charlotte hatte die meisten dieser Möglichkeiten bereits
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