Die Frau aus Alexandria
musst du den Augenblick dafür gut wählen. Er arbeitet zurzeit an einem äußerst unangenehmen Fall.«
»Können wir dabei helfen?«, erkundigte sich Emily prompt. Sie war mit einem Schlag wieder ernst geworden.
»Nein!«, gab Charlotte entschieden zurück. »Zumindest noch nicht. Ohnehin müssen wir Martin Garvie aufspüren.«
»Das werden wir auch«, versicherte ihr Emily voll Zuversicht. »Der junge Mann, mit dem wir zu Mittag verabredet sind, ist genau der Richtige dafür. Ich habe die Sache eingefädelt, während ich mich umgezogen habe.«
Der Genannte, ein ehrgeiziger und selbstsicherer junger Mann namens Jamieson, erwies sich als Schützling von Emilys Gatten, dem Unterhausabgeordneten Jack Radley. Er war entzückt, mit der Gemahlin seines Mentors essen zu dürfen. Da außerdem ihre Schwester anwesend war, ließ sich vom Standpunkt der Schicklichkeit nichts daran aussetzen.
Anfangs sprach man über allerlei Themen von allgemeinem Interesse. Als sie auf die durch die Baumwollarbeiter in Manchester
hervorgerufene schwierige Lage zu sprechen kamen, wandten sich die Gedanken aller wegen der Verbindung zu Ryerson auf ganz natürliche Weise dem Mord an Edwin Lovat zu, auch wenn keiner von ihnen diesen Punkt ansprach.
Der Kellner brachte den ersten Gang der exquisiten Mahlzeit – eine vorzügliche belgische Fleischpastete für Mr Jamieson und eine klare Suppe für Charlotte und Emily.
Im Bewusstsein dessen, dass sie die Zeit ihres Gastes nicht unbegrenzt in Anspruch nehmen konnte, da dieser bald wieder zu seinen Pflichten zurückkehren musste, kam Emily ohne lange Einleitung zur Sache.
»Es geht um eine äußerst geheime Untersuchung im Auftrag einer Regierungsabteilung«, log sie schamlos, nicht ohne zuvor Charlotte unter dem Tisch auf den Fuß getreten zu haben, damit sie keine Überraschung zeigte oder gar widersprach. »Meine Schwester«, sie sah zu ihr hinüber, »hat mir eine Möglichkeit aufgezeigt, auf welche Weise ich dabei mitwirken kann. Das Ganze ist streng vertraulich, Sie verstehen?«
»Gewiss, Mrs Radley«, sagte er.
»Das Leben eines jungen Mannes könnte davon abhängen«, erläuterte Emily und schob ihre Suppe beiseite. »Zwar ist es denkbar, dass er schon nicht mehr am Leben ist, aber wir hoffen aus tiefem Herzen, dass es nicht so ist.« Ohne auf seinen beunruhigten Blick zu achten, fuhr sie fort: »Von Mr Radley habe ich gehört, dass Sie Mitglied im White’s Club sind. Ist das richtig?«
»Ja, das stimmt. Es hat ja wohl nichts ...«
»Natürlich nicht«, beeilte sie sich, ihm zu versichern. »Der Klub ist in keiner Weise in die Sache verwickelt.«
Mit dem Ausdruck tiefster Konzentration beugte sie sich leicht vor und sagte in verschwörerischem Ton: »Ich denke, ich sollte am besten ganz offen sprechen, Mr Jamieson ...«
Auch er beugte sich vor und sah sie fragend an. »Ich verspreche Ihnen, Mrs Radley, dass nichts über meine Lippen kommen wird ... zu niemandem.«
»Danke.«
Der Kellner brachte den nächsten Gang – gedünsteten Fisch für die Schwestern, Roastbeef für Jamieson. Kaum hatte er sich mit dem abgetragenen Geschirr entfernt, holte Charlotte Luft. Sogleich spürte sie Emilys Schuh an ihrem Knöchel. Sie zuckte leicht zusammen.
»Wir haben Grund zu vermuten, dass uns ein gewisser Stephen Garrick wichtige Hinweise geben könnte«, sagte sie.
Jamieson runzelte die Brauen, schien aber weniger erstaunt, als sie erwartet hatte. »Es ist ein wahrer Jammer«, sagte er ruhig. »Wir haben uns alle schon gedacht, dass bei ihm nicht alles mit rechten Dingen zugeht.«
»Inwiefern?«, fragte Charlotte und bemühte sich, ihre Stimme neutral klingen zu lassen und den Anflug von Angst zu unterdrücken, der sich bei ihr meldete.
Er sah sie mit seinen großen, leuchtend blauen Augen offen an. »Er trinkt viel mehr, als gut für ihn ist«, gab er zur Antwort. »Man könnte glauben, dass er damit etwas in sich zu ertränken versucht.« In seinem Ausdruck lag Mitgefühl. »Zuerst dachte ich, er lässt sich voll laufen, um sich bei den anderen nicht zu blamieren. Sie werden einsehen, dass eine solche Vermutung nahe liegt. Dann aber ist mir allmählich aufgegangen, dass etwas anderes dahinter stecken muss. Er hat nicht einmal aufgehört, als die Sache anfing, seiner Gesundheit ernsthaft zu schaden. Außerdem trinkt er nicht nur in Gesellschaft, sondern auch, wenn er allein ist.«
»Ich verstehe«, sagte Emily. »Offensichtlich macht ihm etwas sehr zu schaffen. Da Sie den
Weitere Kostenlose Bücher