Die Frau aus Alexandria
Stellung konnte man Gracie ohne weiteres als eine Freundin ansehen, wie es nur wenige gab.
Mrs Edsel entspannte sich ein wenig. »Ist sie jung?«, wollte sie wissen.
»Ja.« Charlotte vermutete, dass das die richtige Antwort war.
»In dem Fall dürfte es klüger sein, sich anderweitig umzusehen – es sei denn, sie wäre sehr unansehnlich.«
Diesmal hielt Charlotte den Mund.
»Was stimmt denn mit ihm nicht?«, fragte Emily mit ungewöhnlicher Kühnheit. »Hat er Freunde, die er nicht vorzeigen kann? Wer weiß etwas über ihn?«
»Nun ja ...« Mrs Edsel schwankte zwischen ihrer brennenden Neugierde und der Besorgnis, eine nicht wieder gutzumachende Indiskretion zu begehen. »Soweit mir bekannt ist, gehört er den üblichen Klubs an.« Diese Aussage konnte sie riskieren, ohne etwas falsch zu machen.
»Tatsächlich?« Emily riss ihre blauen Augen weit auf. »Ich kann mich gar nicht erinnern, dass mein Mann seinen Namen genannt hätte. Vielleicht habe ich ihn auch einfach überhört.«
»Auf jeden Fall ist er Mitglied im White’s Club«, versicherte ihr Mrs Edsel. »Und das ist ja wohl einer der besten.«
»Unbedingt«, stimmte ihr Emily zu.
»Die Spitzen der Gesellschaft ...«, murmelte Charlotte anzüglich.
Mrs Edsel gab ein leises Kichern von sich, das sie rasch unterdrückte. Dann sprudelte sie hervor: »Ich weiß natürlich nicht, ob etwas daran ist, aber mein Mann sagt, er trinkt mehr, als ihm gut
tut – und das ziemlich oft. Ich weiß, das gilt bei einem Mann im Allgemeinen nicht als schlimmer Charakterfehler, aber mir sagt das nicht unbedingt zu. Außerdem soll er recht temperamentvoll sein. Ich könnte nichts damit anfangen. Mir ist ein Mann von ruhigem Wesen lieber.«
»Mir auch«, nickte Emily. Sie vermied es, dabei Charlotte anzusehen, die natürlich wusste, dass das eine faustdicke Lüge war. Ein solcher Mensch konnte nur ein ausgesprochener Langweiler sein.
»Absolut!«, bekräftigte Charlotte, als Mrs Edsel, Billigung heischend, zu ihr hersah. »Wenn man längere Zeit mit einem Menschen zusammen sein möchte, ist das unerlässlich. Es ist auf die Dauer nicht auszuhalten, wenn man nie weiß, womit man als Nächstes rechnen muss.«
»Da haben Sie Recht«, sagte Mrs Edsel mit feinem Lächeln. »Ich hoffe, Sie halten mich nicht für vorwitzig, aber ich würde Ihrer Freundin unbedingt raten, noch einige Monate zu warten. Ist es ihre erste Londoner Saison?«
Charlotte und Emily antworteten wie aus einem Mund - die eine mit Ja, die andere mit Nein, aber Mrs Edsel sah zu Charlotte hin.
Während der nächsten halben Stunde unterhielten sie sich in aller Ausführlichkeit über die Schwierigkeiten bei der Suche nach einem passenden Ehepartner und teilten einander mit, wie froh sie alle miteinander waren, dass sie für sich selbst die richtige Wahl getroffen hatten und noch nicht vor der Notwendigkeit standen, einen passenden Mann für ihre Töchter zu suchen. Es fiel Charlotte schwer, das Richtige zu sagen, denn sie war dabei weitgehend auf ihre Erinnerungen angewiesen. Ein besonderer Balanceakt, der eines Zirkuskünstlers würdig gewesen wäre, war nötig, um Pitts gesellschaftlich völlig indiskutable Beschäftigung nicht preisgeben zu müssen. Auch wenn »Sicherheitsdienst« zweifellos besser klang als »Polizei«, durfte sie auf keinen Fall darüber sprechen. Es kränkte ihren Stolz, in diesem aufgeklärten Zeitalter so tun zu müssen, als wisse sie nicht so recht, welcher Tätigkeit ihr Mann nachging, zumal sich selbst Mrs Edsel zu wundern schien, was für ein unbedarftes Geschöpf sie da vor sich hatte.
Kaum saßen sie wieder in der Kutsche, als Emily in so prustendes Lachen ausbrach, dass sie einen Schluckauf bekam. Charlotte wusste nicht, ob sie mitlachen oder vor Wut platzen sollte.
»Nun lach schon!«, forderte Emily sie auf, als der Kutscher die Pferde antrieb, dem nächsten Ziel entgegen. »Du warst hinreißend, einfach unbezahlbar! Wenn Thomas das wüsste, würde er dafür sorgen, dass du das nie vergisst.«
»Nun, er weiß es nicht!«, sagte Charlotte mahnend.
Mit einem Lächeln lehnte sich Emily behaglich gegen die gepolsterte Rückenlehne. »Ich finde, du solltest es ihm unbedingt erzählen ... aber wahrscheinlich würdest du es nicht so gut hinbekommen. Sicher ist es besser, du überlässt das mir.«
»Emily!«
»Lass mich doch!« Das war weniger eine Bitte als ein Protest. »Bestimmt weiß er den Spaß zu schätzen - und das ist ja nun wirklich einer.«
»Aber dann
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