Die Frau aus dem Meer
Alte und reichte ihm das Stück Karton, das sie die ganze Zeit in der Hand zurückbehalten hatte. «Das ist eine Fotografie, die ihre Tante vor ihrem Tod von ihr machen ließ.»
Gnazio betrachtete das Bild. Ihm war, als würde er es auf dem Kopf stehend betrachten. Er drehte den Karton um. Das Foto war immer noch verkehrt herum. Da wurde ihm klar, dass es sein Kopf war, der sich drehte.
Aber war es wirklich sein Kopf, der sich drehte, oder war es die ganze Welt, die sich um ihn herum drehte? Er bekam Lust zu singen, hielt sich aber zurück.
«Na, was ist?», fragte die Alte listig.
«Ich will sie haben», sagte Gnazio entschlossen.
«In Ordnung», erwiderte Donna Pina. «Das freut mich. Maruzza ist eine Hausfrau, wie es keine andere gibt. Sie kocht gut, sie versteht sich aufs Nähen, ist immer gepflegt und von Natur aus ein fröhlicher Mensch. Sie singt unglaublich gern, sie singt von morgens bis abends.»
Gnazio, der ganz verzaubert war, konnte seinen Blick gar nicht mehr von der Fotografie lösen.
«Habt Ihr schon mit ihr über mich gesprochen?»
«Noch nicht. Erst wollte ich mit Euch reden.»
«Und wenn sie mich nicht will?», fragte Gnazio besorgt.
«Überlasst das nur mir!», sagte die Alte.
«Wann werdet Ihr mit ihr sprechen?»
«Morgen.»
«Und wann gebt Ihr mir Antwort?»
«Morgen Abend.»
«Ist das sicher?»
«Ganz sicher! Woher plötzlich diese Eile?», fragte die Alte und streckte die Hand aus.
«Was wollt Ihr?»
«Das Foto.»
«Oh, nein! Das behalte ich. Außerdem braucht Ihr es jetzt niemandem mehr zu zeigen», sagte Gnazio. Er spürte bereits, wie die Eifersucht in seinem Inneren aufstieg.
Die ganze Nacht über blieb er wach unter dem Olivenbaum sitzen und betrachtete Maruzzas Foto im Licht der Karrenlampe.
Maruzza lehnte an einer hölzernen Säule. Ihre Augen erinnerten an zwei kleine Himmelskugeln, ihr Mund schien so rot wie ein Kirschlein zu sein. Das gerade, feine Näschen teilte das frische, eben gepflückte Äpfelchen, als das ihr Antlitz ihm erschien. Das Haar reichte ihr bis unterhalb der Hüften. Die Bluse war mit Blumen bedruckt und wölbte sich anmutig über den knospenden Brüsten. Ihre Taille war so schmal, dass er sie mit Daumen und Zeigefinger hätte umfassen können, und von der Hüfte fiel ein über und über mit Knöpfen besetzter Rock bis zum Boden hinunter. Unter dem Rock schauten die Füßchen hervor, die bewiesen, dass sie eine Frau und keine Sirene war. Sie musste vier oder fünf Fingerbreit größer sein als er. Alle Frauen, die er in Amerika gesehen hatte, verblassten gegen sie.
Als der Tag anbrach, löschte er die Lampe und fuhr mit der Betrachtung von Maruzza fort, die im zunehmenden Sonnenlicht immer schöner wurde.
Er fühlte sich berauscht, wie er es vorher nie erlebt hatte. Es war, als hätte er das gesamte Fünfzig-Liter-Weinfass ausgetrunken. Ihm stand überhaupt nicht der Sinn nach Arbeit.
Er ging ins Haus, um sich in einer Spiegelscherbe zu betrachten. Er erschrak, als er in das Gesicht eines alten Mannes blickte: Die ergrauten Strähnen erinnerten an Silberhaargras, der lange zottelige Bart sah aus wie ein Vogelnest, und die Augenbrauen waren stachelig wie Christusdorn.
Und plötzlich gefiel ihm auch das Schlafzimmer nicht mehr, es war zu leer, zu einfach, es war jemandes wie Maruzza einfach nicht würdig.
Er setzte sich auf sein Maultier, an das er den Esel gebunden hatte, und machte sich auf nach Vigàta.
Das Foto steckte er in seine Jacke, doch während des ganzen Weges musste er es nicht ein einziges Mal hervorziehen, denn alles, was ihm unterwegs unter die Augen kam, schien ihm durchsichtig zu sein, überall strahlte Maruzzas Gesicht hindurch.
«Du lächerlicher Alter!», sagte er zu sich selbst. «Wie konntest du dich mit siebenundvierzig bloß so verlieben?»
Und wie hatte er sich ausgerechnet in eine verlieben können, die von sich glaubte, eine Sirene zu sein, er, der er nicht einmal ertrug, dass man das Meer in seiner Gegenwart auch nur erwähnte?
In Vigàta ging er zuerst in den Barbiersalon von Don Ciccio Ferrara. Der Barbier brauchte zwei Stunden, um ihn wie einen Baum zurechtzustutzen.
Danach ging er zu Don Filippo Greco, dem Schneider, und ließ Maß nehmen. Für einen ordentlichen Hochzeitsanzug.
«Wollt Ihr heiraten?»
«Weiß ich noch nicht.»
Und noch einen Anzug, ja, so einen, falls er mal mit der Frau ausgehen würde. Einen aus braunem Samt. Und zwei Arbeitshosen.
Danach ging er in das Modegeschäft von Donna
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