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Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich

Titel: Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudia Seidert
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neuen Rock aus zwei alten. Für meinen Bruder war es mein Vater, der eine Hose opfern musste. Und Mutter war sehr erfinderisch, um ein anständiges Essen zu bereiten. Glücklicherweise hatten wir einen kleinen Garten, und statt Blumen wuchsen dort Kartoffeln und Gemüse.
    Renée in ihrer Wohnung
    Renée war sofort einverstanden, als ich fragte, ob ich sie in Antwerpen besuchen dürfe. Während der Vorbereitungen zu der Reise machte sich in mir eine Unruhe breit. Es war eine andere als das neugierige Kribbeln, das sich vor jeder Recherchereise zu unbekannten Menschen einstellt. Diesmal überwog ein mulmiges Gefühl, wie würde unser Zusammentreffen verlaufen, würde Renée Vorbehalte haben? Wie würde sie mir begegnen, mit dem Chauvinismus der Besiegten oder der Überheblichkeit der Sieger? Schließlich bin ich eine der Nachfahren derjenigen, die sie damals im Krieg überrannt haben. In Frankreich hatte ich erlebt, wie wir, das Paar aus Deutschland, im Lebensmittelladen im bretonischen Dorf nur widerwillig bedient wurden, in England machte sich mein Austauschvater lustig über die »Krauts« und rief, um mich zu erschrecken, unvermittelt »Sweinehund!«. Das liegt lange zurück und er meinte es nicht böse. Ich lachte mit, aber ich hatte dort und später in Frankreich das schlechte Gewissen der Deutschen, deren Vorfahren mit Militärstiefeln überall dort bereits über Leichen getrampelt waren, wohin wir später als Touristen reisten. Nun also Antwerpen.
    Antwerpen ist eine selbstbewusste Stadt, vital, mit einer ebensolchen Architektur. Stadthäuser in langen Reihen, deren Gleichförmigkeit allenthalben aufplatzt und Gebäude gebiert, die so tun, als seien sie Solitäre. Da steht Geschichtsträchtiges neben bravemKlinker und schrägen Glasfassaden, nicht immer einträchtig und nicht immer gelungen, aber ungeheuer lebendig. Hier haben sich Bürger über Jahrhunderte ihre Stadt nach ihren Vorstellungen gebaut. Menschen in allen Sprachen und Hautfarben wandern durch die Straßen, weite Teile der Innenstadt sind frei von Autos, Straßenbahnen verbinden die Quartiere miteinander. Und überall laden Restaurants und Cafés, Imbisse und Bars zum Einkehren ein, die Antwerpener scheinen das feierfreudigste Stadtvölkchen der Welt zu sein.
    In einer Seitenstraße nahe der Innenstadt lebt Renée. Das Haus ist eines dieser weniger ansehnlichen Mietshäuser, mit einer gesichtslosen, nur durch Fensterbänder gegliederten Fassade. Das Treppenhaus war gerade verstopft, als ich kam, ein schwergewichtiger Mieter wurde von Sanitätern auf einer Trage über die schmale Treppe heruntergewuchtet, in den engen Lift hatte die Liege nicht hineingepasst. Ich nahm den Fahrstuhl und fuhr hinauf in den vierten Stock. Renées Wohnung öffnete sich überraschend großzügig und hell. Da stand sie, eine kleine, in gut acht Jahrzehnten zusammengeschmurgelte Frau mit rundem Rücken, lebhaften Augen und einem hinreißenden Lächeln.
    »Alt werden ist schön, wenn man es nicht selber ist,« sagt Renée. In den achtziger Jahren war sie hier mit ihrem zweiten Ehemann eingezogen, seit seinem Tod im Jahr 1997 ist sie allein. Sie plagen nicht nur kleine Wehwehchen, wie sie das Alter mit sich bringt, doch sie trägt alles mit Fassung, zumindest gegenüber Fremden – und mit einem wundervollen Humor. Wenn sie das Haus verlässt, geht das nur mit einem Stock, sie geht langsam und leicht gekrümmt, und jeder Ausflug braucht seine Vorbereitung und seine Zeit. Doch sie hatte bereits fürsorglich Stadtplan und Tageskarte für die Antwerpener Verkehrsbetriebe für mich besorgt.
    Renée passt in diese muntere Stadt. Sie ist keine dieser alten Frauen, die ihr Viertel möglichst nicht verlassen, die Angst vor allem und jedem haben. Mit über 85 hat sie noch immer ein Abonnement für die Oper und lässt sich von einem Freiwilligen-Fahrdienst hin- und zurückkutschieren. Und jeden Mittag gegen 11:00 Uhr geht sie zur nächsten Tramhaltestelle und fährt mit der Straßenbahn zum Service-Zentrum für Senioren zum Mittagessen. Auf diese Weisemuss sie einmal am Tag ihre Wohnung verlassen, trifft Bekannte und hört den neuesten Tratsch.
    Wir redeten viele Stunden über die alten Erlebnisse. Ich wollte von ihr möglichst viel über Ady erfahren und musste zugleich die Zeit im Auge behalten; in der Erinnerung umherzuwandern kostet Kraft, auch wenn es die Ältere nicht wahrhaben möchte. Renée ließ sich nur allzu gern auf die Vergangenheit ein, und es brachte mich immer wieder

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