Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
zum Staunen, an welche Details sie sich erinnerte. Einen zusätzlichen Reiz bekam die Unterhaltung dadurch, dass ich nicht flämisch spreche und Renée diesen Mangel gewandt ausglich, indem sie mühelos zwischen französisch, englisch und deutsch hin und her wechselte. Damit löste sie auch gleich eines der Rätsel im Koffer von Adriana: Es waren ihre Briefe, in denen ein Absatz auf Holländisch, der nächste in englischer und wieder ein anderer in französischer Sprache geschrieben war. Renée lachte herzlich über meine anfängliche Vermutung, es habe sich um einen Geheimcode unter Agenten gehandelt. Es war nichts weiter als die vielen Belgiern eigene Zweisprachigkeit und eine spielerische Leichtigkeit, auch mit fremden Sprachen umzugehen, die man gerade erst gelernt hat.
Wenn ihr zwischendurch ein flämisches Wort geriet und ich sie fragend ansah, amüsierte sie sich über mein Nichtverstehen. Renée muss, als sie jung war, unternehmungslustig gewesen sein, lebendig und zupackend und allem gegenüber, was ihr begegnete, zuerst einmal positiv eingestellt. Darin war sie offensichtlich das genaue Gegenteil von Ady gewesen. Ady war still, ängstlich, zurückhaltend, wo Renée die Initiative ergriff. »Ady was a very nice person. I liked her.« Und dann fuhr Renée auf Deutsch fort: »Sie war sehr schmal, sehr hübsch. Sie war nicht sehr selbstständig, das konnte sie nicht so gut. Jetzt kann ich das nicht mehr so. Aber damals, wenn ich einen Entschluss gefasst hatte, dann buff buff …«
Renée heiratete zwei Mal, Ady hatte sich nicht für einen einzigen entscheiden wollen, obwohl sie von zwei Männern zugleich angebetet wurde – »adoré«, sagte Renée. Leider konnte sich Renée nicht mehr an die Namen erinnern, nur daran, dass Maria einen der beiden gern als Schwiegersohn gesehen hätte. Auf meine Nachfrage am nächsten Tag erinnerte sich Renée, dass derjenige George gewesen war, »die Mutter hatte ihn sehr gern«. Und dann fiel ihrnoch eine Geschichte mit George ein: »Ady wollte blond sein, ihre natürliche Farbe war dunkel, also ließ sie sich färben. Später wollte sie noch eine Dauerwelle, der Coiffeur sagte, nee, das geht nicht, da bricht das Haar. Sie beharrte darauf und er sagte: ›Auf deine Verantwortung‹, und sie musste das unterschreiben, dass sie die Verantwortung übernehme. Den anderen Tag klagte sie, das Haar geht mir aus! Später hatte sie eine Verabredung mit George und der lief an ihr einfach vorbei. Er hat sie nicht gleich erkannt. Und er war wütend, dass sie das gemacht hat.«
Ady in Antwerpen, 1938.
Renées Wohnung ist gemütlich, voller Teppiche und Möbel. Große Schränke beherbergen die Erinnerungen eines langen Lebens. Obwohl im Wohnzimmer ein großer Esstisch steht, sitzt Renée meist an einem Gartentisch am Fenster, ihre Augen lassen nach, dort ist das Licht zum Lesen besser. Noch steht da auch ihre Nähmaschine. Früher war das für sie ein unentbehrliches Utensil, sich Kleider passend auf den Leib zu schneidern. Aber mittlerweile fällt es ihr immer schwerer, sie zu benutzen. In einem Schrank voller Fotos und Nippes entdecke ich auch ein Bild von Ady. Es wurde 1938 in einer der Geschäftsstraßen in Antwerpen aufgenommen – es ist eines der Fotos aus dem Straßenleben.
Francisca Renée wurde am 16. September 1923 geboren. Ihre Familie lebte in Merksem, einem Vorort von Antwerpen. Wegen der angegriffenen Gesundheit ihres drei Jahre jüngeren Bruders zog die Familie nach zehn Jahren nach Ekeren-Donk, einem Dorf etwas weiter im Norden, wo die Luft nicht von zahllosen Fabriken verpestet war. Ab 1938 besuchte Renée eine Handelsschule, zur gleichen Zeit wurde der Vater auf Kurzarbeit gesetzt. Die folgenden Jahre waren für die Familie äußerst schwierig und die Mutter musste wahre Wunder vollbringen, denn »wir waren alle große Esser und haben doch nicht hungern müssen«.
Bevor Renée die Schule abschließen konnte, überfielen am 10. Mai 1940 die Deutschen Belgien.
… wieder Krieg
»Er dachte sie sich nicht so lebendig, nicht so elegant, nicht so verschwenderisch von Lichtreklamen erleuchtet, denn irgendetwas von der ›Festung Antwerpen‹ des Ersten Weltkriegs war undeutlich in seinem Gedächtnis hängengeblieben, sodass er sich ein graues, abweisendes Stadtbild vorgestellt hat, etwas regnerisch Düsternes, wo zwischen Festungskuppeln und Hafenschuppen einsilbige Menschen ihrem Tagewerk nachgehen … Und in ihrer Stadt, die sie die ›Metropole‹ nennen und von der
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