Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
sie alle wissen, dass sie zur Zeit von Karl V. Europas mächtigste Handelsstadt war, mächtiger nach Silber, Gold, Häuserprunk als London oder Paris. Um wie viel intensiver doch hier das Leben pulsiert, denkt der Ungast, als in Köln, das eben erst verlassen wurde, als gar in Wien, das mehr und mehr im Nebel verblassender Erinnerung versinkt.« Jean Améry war nach dem »Anschluss« Österreichs aus seiner Heimatstadt Wien nach Belgien emigriert.
Tausende suchten Schutz vor den Verfolgungen der Nazis in Deutschland und den »angeschlossenen«, den annektierten oder bereits besetzten Staaten, waren ins sicher scheinende Exil geflüchtet. Politische und Juden wie er, Améry. Zum Nichtstun verurteilt, waren sie bei den Einheimischen nicht nur gern gesehen. Obwohl die jüdischen Flüchtlinge noch nicht einmal unbedingt dem Staat »auf der Tasche lagen« – wie im Fall von Antwerpen, wo die jüdische Gemeinde für sie aufkam. Dennoch erschienen sie den Belgiern nicht selten als Faulenzer oder als potenzielle Konkurrenten auf dem ohnehin dünnen Arbeitsmarkt. Améry beobachtete einen dicken flämischen Polizisten, der in der Pelikaanstraat in Antwerpen »missmutig und unnahbar im Gewimmel der Juden stand. Noch höre ich mich halblaut vor mich hinmurmeln: Das wird nicht gut ausgehen. Es ging nicht gut aus. Als im Mai 1940 die Deutschen die Stadt besetzten und die Juden teils geflohen waren, teils sich kaum noch aus ihren Wohnungen wagten, konnte man manchen Flamen mit Genugtuung sagen hören: ›Nu zijn wij onder onz …‹ Wie wenig sie ›unter sich waren‹ im besetzten Land, begriffen sie erst später, dann aber gründlich.«
Bis zum 18. Mai waren Lüttich, Brüssel und Antwerpen von deutschen Truppen besetzt und trotz des Widerstands französischer und britischer Einheiten drangen die Deutschen bis zum 20. Mai bis zur Kanalküste vor. Die Lage war katastrophal. Dem Jubel im deutschsprachigen Gebiet entsprach Panik und Angst in fast ganz Restbelgien. Der Bevölkerung waren die Exzesse aus dem Ersten Weltkrieg noch allzu gegenwärtig. Vielerorts wurden die Deutschen mit verrammelten Fensterläden, versperrten Türen und verlassenen Dörfern empfangen, selbst in großen Städten wie Verviers waren die Straßen menschenleer, die Bewohner auf der Flucht.
Die Straßen waren verstopft, Truppen wollten in die eine, Flüchtlinge drängten in die andere Richtung und darüber pfiffen die deutschen Stukas, Sturzkampfbomber vom Typ JU87. Lebensmittel und Benzin waren knapp, um das Wenige, das es gab, konkurrierten die Flüchtenden mit den eigenen und den deutschen Soldaten. Einem Teil der Fliehenden gelang es, über die französische Grenze zu entkommen. Doch auch dort waren sie nicht willkommen, wurden als »Boche du nord« beschimpft, schlimmstenfalls zurückgeschickt.
Nach späteren Angaben der deutschen Militärverwaltung, berichtet der ostbelgische Historiker Herbert Ruland, haben in den ersten Kriegstagen mindestens 2,5 Millionen Zivilisten, zwischen einem Viertel und einem Drittel der belgischen Gesamtbevölkerung, vor den vorrückenden Deutschen ihr Heil in der Flucht gesucht.
Während der Kämpfe wurden 7500 belgische Soldaten der regulären Armee getötet, jeder weitere Widerstand war zwecklos und hätte eine tödliche Gefahr für die umherirrenden Flüchtlinge bedeutet und eine zusätzliche Zerstörung des Landes mit sich gebracht.Am 28. Mai 1940 kapitulierte Belgien. Die belgische Regierung zog sich nach Frankreich zurück und als das nicht zu halten war, ins Exil nach London. König Leopold III. blieb im Land, er betrachtete sich im Schloss Laeken als deutschen Kriegsgefangenen. Die Person des Königs blieb so zwar Symbol der staatlichen Existenz, ihm war als Kriegsgefangenem jedoch keinerlei politische Betätigung erlaubt. Bevor die Regierung sich nach Frankreich absetzte, ermächtigte sie die Spitzenbeamten der Ministerien, alle Aufgaben der Minister zu übernehmen. In Abstimmung mit dem prominentesten Industriellen und Bankier des Königreichs, Alexandre Galopin von der »Société Générale« einigte man sich rasch darauf, dass sich die erste deutsche Besatzung von 1914 bis 1918 auf keinen Fall wiederholen dürfe – einer deutschen Zivilverwaltung, die den Staat zerschlug, die Geldvorräte raubte, die Industrieanlagen demontierte und Arbeitskräfte deportierte. Diesmal sollten die Entscheidungen von belgischer Seite getroffen werden, mit den produzierten Gütern Lebensmittel für die Bevölkerung beschafft
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