Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
requiriert als Krankenfahrzeug. Renée muss auf dem Heimweg bis weit hinter Merksem laufen, bis sie eine Tram erwischt, die sie in den Norden nach Ekeren-Donk bringt. Die Mutter hat noch nichts von dem Angriff gehört, sie hat den Keller geputzt.
Ady hat es nicht ganz so weit, aber auch sie muss bis zur Zonnewijzerstraat in Berchem laufen. Maria ist erlöst. In Berchem waren die Flugzeuge nicht nur zu sehen, sie hat die Bomben gehört und das Schlimmste befürchtet. Sie schließt Ady erleichtert in die Arme.
Die Chefs von ERLA und Daimler ziehen aus dem Angriff Konsequenzen: Teile der Werke werden dezentral an verschiedenen Stellen in der Stadt untergebracht. Auch Ady muss die Arbeitsstelle wechseln. Sie wird ins wenige Kilometer entfernte Werk II nach Wilrijk versetzt. Vermutlich stammt der Werksausweis von 1944, den wir kennen, daher. Renée blieb im Mutterhaus an der Vredebaan.
Zensierte Post
Renaix, 2.II. 43
Meine liebste Adyke
man hat mir den Tod deiner Großmutter mitgeteilt und ich möchte deinen Eltern und dir mein herzliches Beileid ausdrücken.
Ich entschuldige mich für die ungewollte Verspätung, da Madame Thalheim, die Besitzerin [des Hotels] mir erst heute den Brief gegeben hat. Ich hätte sehr gerne an der Beerdigung teilgenommen, aber da ich nichts davon gewusst habe, musst du bitte für meine Abwesenheit Verständnis haben. Ich frage mich übrigens, warum du diesen Brief nicht hierher an mich in Renaix geschickt hast.
Ich verstehe so wenig von dir in der letzten Zeit und ich frage mich manchmal, wie das zu dir passt.
So vieles hatte sich verändert in den vergangenen Jahren, auch Ady. Gus-Suske-Jefke, Adys früherer Verehrer, schrieb zweimal an Ady, 1942 und 1943 aus Renaix, flämisch Ronse, einer Kleinstadt hinter Gent gelegen. Als Adresse gibt er das Hotel »Elite« an der Place de la Gare in Renaix an. Heute existiert dort nur noch eine Bahnhofstraße, der Bahnhof ist wie überall längst nicht mehr die erste Adresse für ein Hotel.
Anscheinend hatte Ady zuvor wieder Kontakt zu ihm aufgenommen. Er erklärt sich bereit, sie zu treffen, sein Ton ist jedoch distanziert. Ein Jahr später, wiederum im November, schreibt Gus-Suske-Jefke einen weiteren Brief an Ady.
Sie hatte Arbeit bei einer deutschen Firma, davon hat sie Gus-Suske-Jefke nichts erzählt, und sie ist mit einem Deutschen zusammen, auch davon erzählt sie ihm lieber nichts.
Adys Großmutter war gestorben. Das war der Anlass für Gus’ Brief. Einem Brief von Netje aus Schweden wenige Monate später können wir entnehmen, dass die Verstorbene Netjes und Marias Mutter gewesen war. Netje schreibt an Ady etliche Briefe aus Nässjö, später aus Göteborg. Die Schreiben sind schwer zu entziffern, sie schreibt ohne Punkt und Komma und sehr assoziativ. So kommt Netje auch hier vom Tod zum Leben und zum Heiraten.
Ady ich denke auch dass du zum Grab gehst und ein Blümchen dorthin bringst das ist jetzt schon ein Jahr her dass sie tot ist ich kann das beinahe nicht glauben ein Jahr ist doch gar nichts mehr nun wirst du dich wohl zurechtfinden Ady aber jetzt beginnst du noch mal in der Blüte deines Lebens 31 Jahre ist noch nichts du siehst aus wie 20 du hast noch Zeit genug zu heiraten du verdienst doch Geld dann kannst du tun was du willst, denn irgendwie zuhause zu sitzen und nichts zu tun aber Ady heirate nie einen Seemann
warnt sie ihre Nichte, »denn dann hast du nie etwas von deinem Leben Jetzt bin ich wieder vier Jahre allein das ist doch nichts.«
Der Brief ist datiert auf den 28. März 1944.
Netje fügt noch an, dass sie Diphtherie hatte, aber nun sei sie wieder gesund, und sie beklagt sich über den Preis von Schuhen, die sie Ady schicken wollte und es dann doch nicht tut, sie seien zu teuer.
Der Brief trägt ein eigenartiges Merkmal, die Seiten sind jeweils auffällig mit einem blauen Pinselstrich überzogen. Und in den oberen Ecken wurden mit Bleistift kleine Zahlen notiert: »1573«.
In ihren Memoiren ›Schlage die Trommel und fürchte dich nicht‹ beschreibt die streitbare Maria Gräfin von Maltzan ihre Arbeit bei der Postprüfstelle in Berlin: »Noch bevor Hitler am 1. September 1939 den Angriff auf Polen eröffnen ließ, wurde die Briefzensur eingeführt. Aufgrund meiner Sprachkenntnisse wurde ich wie viele andere Frauen und Mädchen auch dazu eingezogen. Acht und mehr Stunden saß ich nun pro Tag im Kaisersaal am Zoo und las peinlich berührt anderer Leute Post. Ein jeder von uns war für ganz bestimmte
Weitere Kostenlose Bücher