Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
Nervosität, es schien immer wahrscheinlicher, dass bei einem Luftangriff der Alliierten oder durch Sabotage reihenweise flugbereite Jäger in Flammen aufgehen würden. Der Front-Reparaturbetrieb unterhielt eine eigene Jägerstaffel, um feindliche Flugzeuge bei ihren Angriffen auf Antwerpen abzuschießen. Auch am Boden reagierte man. Irgendwann, die Beunruhigung war wohl zu groß geworden, erwähnte Renée, wurde der bisherige Wachschutz ausgetauscht. SS-Männer übernahmen dessen Aufgaben.
Der Deutsche Jupp
Jeden Tag stellte sich für die Belgier die Frage, wie viel sozialer Umgang mit dem Feind opportun war und ob dies mit dem eigenen Patriotismus zu vereinbaren war. Die Flamen galten als »rasserein«, also wurden sie als Arbeitskräfte im Großeuropa nationalsozialistischer Planung speziell umworben.
Jedes Zusammentreffen mit den Deutschen, ob Soldat irgendwo in der Stadt oder ziviler Angestellter bei Daimler, erforderte eine eindeutige und bewusste Haltung, und die zu finden war oft schwierig. Die einfachsten Gespräche, menschlichen Gesten konnten zum Gegenstand moralischer Entscheidungen werden: Sollte man auf eine Frage offen und ehrlich antworten, den Weg weisen, wo er erfragt wurde oder Auskunft über den Gesundheitszustand der Mutter geben – konnte daraus am Ende nicht abgeleitet werden, ob sie sich um Arbeit drückte? Sollte man auf ein ungelenkes »Goedemorgen!« ebenso freundlich antworten? Sollte man den Kollegen mittags »smakelijk!« wünschen, wenn sie in ihre Kantine gingen, oder besser schweigen?
Nachdem die Deutschen mit Fahndungsaktionen gegen Zwangsarbeitsverweigerer vorgingen, lautete vielerorts die oberste Verhaltensregel: »Kein anständiger Mensch hat etwas mit dem Feind zu tun!« Doch neben allem Patriotismus ging es selbstverständlich darum, Krieg und Besatzung unbeschadet zu überleben. Anders als in Frankreich, das als »la France muette«, das schweigende Frankreich, auf die Besatzer reagierte, war das Verhältnis der Belgier zu den Deutschen individueller. So wie es der verbliebenen Staatsspitze darum ging, die eigene Industrie vor Demontagen und die eigenen Bewohner vor Massendeportationen zu schützen, so ging es vielen Belgiern vor allem darum, die Besatzung zu überstehen, ohne die eigene Würde zu verlieren.
Mancher mag sich in der Nähe der Deutschen sicherer gefühlt haben als in größerer Entfernung. Möglicherweise ging es auch Ady, Renée und ihren Kolleginnen so. Nähe lässt Vertrauen wachsen – wie sich noch erweisen sollte. Und jungen Leuten wie Renée und Ady ging es auch darum zu leben, trotz alledem. Sie waren jung,Renée noch keine zwanzig, sie wollten sich amüsieren, flirten, ausgehen. Als wir in Antwerpen von unserem Ausflug nach Mortsel in ihre Wohnung zurückkehrten und darüber sprachen, sagte ich so etwas wie »na ja, wie Backfische eben so sind«, einen veralteten Begriff gebrauchend. Renée verstand das Wort nicht und schlug eine Volte in eine ganz andere Richtung: »Backfische!« rief sie aus, »1943, als es so wenig zu essen gab, kamen Tausende Fische an die Küste und es gab wieder Backfisch. Das war ein Wunder!«
Picknick in Mechelen. Auf der Rückseite vermerkte Ady (li. im Bild) das Datum, den 20. 8. 1942 – und den Namen des Mannes im Bild vorne rechts: Juppi.
In einem von Adys Alben stolperte ich über eine Serie von Bildern, aufgenommen an einem Tag im Jahr 1942. Sie zeigt eine Gruppe junger Frauen und Männer bei einem Picknick in Mechelen, so hat es Ady daneben notiert. Das Wetter war schön und man sitzt und fläzt im Gras auf einer Decke. Was die Personen auf den Bildern nach Mechelen geführt hat, wissen wir nicht. Genauso wenig konnten wir über die Personen selbst in Erfahrung bringen, mit Ausnahme von zwei von ihnen: Die eine ist Ady, die andere ist ein Mann, den wir schließlich identifizieren konnten. Er war Deutscher und sein Namewar Jupp Kocyan. Vielleicht hat eine der Personen auf den Bildern in Mechelen gewohnt und die anderen haben ihr einen Besuch abgestattet. Im alten Festungsgemäuer der Dossin-Kaserne in Mechelen hielt die SS die in Belgien verhafteten Juden, Sinti und Roma gefangen. Von hier aus gingen die Transporte in die Vernichtungslager. Sofort stellten sich Fragen ein: Wusste Ady von dem Lager oder war das Sammellager womöglich der eigentliche Grund für die Gruppe in Mechelen? Diente das Picknick nur als Vorwand oder war es der Abschluss einer ganz anderen Aktion? Die Zustände in Mechelen waren ähnlich wie
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