Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
Verhalten. Auch wenn damit traditionelle Vorstellungen von Anstand und Menschenwürde außer Kraft gesetzt wurden. In Fällen emotionaler oder hormoneller Verwicklungen kann der Repressionsdruck, dem die deutsche Bevölkerung unter dem NS-Regime ausgesetzt war, gar nicht hoch genug angesetzt werden.
Renée hat mir gegenüber nie von Übergriffen gesprochen, sie war vielleicht, als die kumpelhaftere, in der Lage, Anzüglichkeiten und chauvinistische Unverschämtheiten burschikos zu entwaffnen. Möglicherweise hat sie aber auch solche Übergriffe, sollte es sie gegeben haben, aus ihren Erinnerungen verbannt oder wollte mir gegenüber nichts davon erwähnen.
Ady ist nicht burschikos, ihr ist diese Gabe nicht gegeben, einen Mann kumpelhaft zu entwaffnen. Ady appelliert durch ihre Art an den Beschützerinstinkt, doch was, wenn ein Mann sie beschützen will, von dem sie gar nicht beschützt werden möchte? Jupps Einfluss reicht nicht überallhin.
Wer ist Jupp?
Ady hatte Jupp in Antwerpen kennengelernt, ihren Eltern vorgestellt, Maria mochte ihn, und jetzt in Neusalz, war er der Mittelpunkt in ihrem Leben. Es gab ihre Arbeitskolleginnen, einige waren zu Freundinnen geworden wie Renée, aber es gab keine Familie, keine Freunde von zuhause, keine Freunde oder Familie von Jupp. Wer war dieser Mann?
Josef Kocyan war zwei Monate jünger als Ady, er wuchs im Ruhrgebiet auf, im Norden Bottrops, in einer eingesessenen vielköpfigen Familie. Nach der Schule machte er eine Mechanikerlehre bei der Bottroper Firma Siebeck GmbH in den Sparten Fahrrad-, Nähmaschinen- und Schreibmaschinen-Technik. Fleiß und Betragen während der Lehrzeit waren gut, sein Gesellenstück wird mit »fast gut« bewertet.
Jupp war wohl kein ausgesprochen pedantischer Arbeiter, auch kein besonders guter Schüler, seine allgemeinen Kenntnisse befand der Prüfungsausschuss für genügend.
Ich hatte mich früh gefragt, warum Jupp während des Kriegesnicht an der Front war. War er für Daimler-Benz so unverzichtbar gewesen, dass die Firma immer wieder verhindern konnte, dass er als Soldat eingezogen wurde? Renée erinnerte sich an Jupp als Lkw-Fahrer, sowohl in Mortsel als auch während der Fahrt nach Neusalz, und dort arbeitete er offensichtlich in gleicher Funktion weiter. Doch wie kam Jupp zu Daimler und warum arbeitete er als Zivilist in den Kriegsjahren 1942 bis 1945? Oder war das mit dem Zivilisten am Ende ein Irrtum?
Jupp (ganz li.) vermutlich in Hofgeismar bei der Nachrichten-Ersatz-Abteilung 9, in Neusalz in der Werkshalle (vorne re.) und beim Sonntagskaffee mit Kollegen (li.).
Wenn jemand wusste, ob und bei welcher Einheit Jupp »gedient« hatte, dann die WASt, die deutsche Dienststelle für die Benachrichtigung der nächsten Angehörigen von Gefallenen der ehemaligen deutschen Wehrmacht. Die WASt bearbeitet noch immer unzählige Anfragen, Suchaufträge dauern und verlangen Geduld.
Und tatsächlich, Jupp war im September 1939 eingezogen worden und laut Meldung vom 10. 12. 1939 bei der 2. Feldfernkabel Kompanie 49 gewesen. Seit dem 1. Dezember 1939 war er bei der 3. Kompanie Nachrichten-Ersatz-Abteilung 9, stationiert in Hofgeismar,nördlich von Kassel, bei einem Ersatz- und Ausbildungstruppenteil. Ab dem 25. August 1942 wurde Jupp der Fliegerhorstkommandantur (B) Antwerpen-Deurne unterstellt. Über seinen Dienstgrad ist der WASt leider nichts bekannt.
Nach etlichen Monaten meldete sich endlich auf eine Zeitungsannonce ein älterer Mann aus Bottrop, der mir den Kontakt zu zweien von Jupps noch lebenden Neffen vermittelte. Der eine, Albert, erinnerte sich, dass Jupp vor dem Krieg bei Henschel in Kassel »als Dreher« gearbeitet hatte. Henschel war nicht nur der Entwickler der schweren Kampfpanzer Tiger I und Tiger II. Dort, wo heute VW in Kassel-Altenbauna Fahrzeuge produziert, baute ab 1936 die HFM, die Henschel-Flugmotorenbau GmbH, für die Luftwaffe Daimler-Benz-Flugmotoren in Lizenz, die DB 601, später auch DB 603, DB 605 und 610. Nachfragen bei Henschel nach Jupp Kocyan blieben erfolglos: Das Unternehmen ist liquidiert und das Firmenarchiv, ein »Riesenarchiv«, wie Herr Weiß vom Henschel-Museum in Kassel gestand, ist nicht erschlossen, es wartet auf Aufarbeitung.
Es sah so aus, als ob Jupp einer der Glücklichen war, die aufgrund ihrer Eignung (Dreher, Mechaniker, Lkw-Fahrer) für ihren Betrieb so notwendig waren, dass sie dem Soldatenlos an einer der Fronten in Europa entgehen konnten. Personen konnten freigestellt werden, wenn ihr
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