Die Frau aus Flandern - eine Liebe im Dritten Reich
worden und es lag an ihr, wie sie damit zurechtkam. Gelang es ihr nicht, würde sie zerrieben werden, wie so viele Tausende von Zivilisten, die in diesem Krieg zum Opfer wurden – weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren oder den falschen Namen trugen – allenthalben durch Willkür und Siegerallmacht. Ady wehrte sich nicht, aber sie sehnt sich nach zuhause, nach Antwerpen und Maria.
Aber seit Antwerpen nicht mehr unter deutscher Besatzung ist, bleibt die Post aus, und auch von ihren Briefen, die sie nach Hause schreibt, weiß Ady nicht, ob sie ankommen. Sie hört nichts von ihrer Tante aus Schweden, nichts von Maria. Auch auf ihren Brief, den sie am 21. November abschickt, kommt keine Antwort. Von diesem Brief wissen wir durch ihre »Kontrollkarte für den Auslandsbriefverkehr«, die ihr am 15. November 44 ausgestellt wurde.
Ihr französischer Bekannter hört ihr zu, dann macht er ihr ein Angebot: Sie könne doch unter seinem Namen an ihre Eltern schreiben, mit der Kriegsgefangenenpost über das Rote Kreuz.
Ady ergreift die Chance. Sie nimmt das Briefpapier mit nach Hause in die Dachwohnung und schreibt einen Brief an ihre Eltern – unter dem Namen des Franzosen, Edouard Mertens.
Diesen Brief hatte ich bei der ersten Sichtung des Kofferinhalts in der Hand, ihm aber keine Bedeutung beigemessen. Ich nahm an, aus irgendeinem nicht mehr nachvollziehbaren Grund sei der Brief eines Kriegsgefangenen in Adys Nachlass geraten. Doch als ich in Antwerpen war, erwähnte Renée die Hilfe eines französischen Kriegsgefangenen, und mir fiel sofort wieder dieser Brief ein. »Ady machte Bekanntschaft mit französischen Soldaten. Einer bot ihr an, unter seinem Namen über das Rote Kreuz ihren Eltern zu schreiben, er selbst war Waise.«
Ob sie Jupp davon erzählte? Konnte sie ihm auch in diesem Fallvertrauen? Wir können nur vermuten, dass Jupp ein zuverlässiger Freund war – wäre Ady sonst bei ihm geblieben?
Mit dem Datum vom 9. Dezember 1944 schickt Ady unter dem falschen Namen von Edouard Mertens den Brief an ihre Eltern.
Liebe Eltern!
Ihr werdet euch freuen und es wird euch beruhigen, wenn ihr von mir ein Schreiben erhaltet. Mir würde es auch besser gehen, wenn ich wüsste, wie es mit euch steht. Es ist sehr traurig, dass wir nichts von unserer Familie zu hören bekommen. Ich hoffe, ihr seid noch guter Gesundheit, und auch, dass Gott mein tägliches Gebet erhört, dass es euch gut geht. Liebe Mami, behalte bitte Mut. Jeden Tag beunruhigt es mich stärker, dass ich nichts von euch höre. Was ist mit unserer kleinen Antoinetje? Ich habe auch der Tante geschrieben und hoffentlich geht es auch da noch gut. Ich wünsche mit ganzem Herzen das Beste für Euch und dass wir uns so schnell wie möglich wiedersehen. Die allerbesten Grüße und für dich, liebe Mami, einen dicken dicken Kuss.
Schreibt bitte an die Adresse sofort zurück.
Euer Euch liebender Sohn.
Die Adresse, die Ady angibt, lautet: Mertens Edouard, Gefangenennummer 34 837, Lager VIII C.
VIII C bezeichnete das Kriegsgefangenen-Mannschaftsstammlager, Stalag VIII C im gut 35 Kilometer entfernten Sagan, Żagań. Dort waren von September 1939 bis Kriegsende Soldaten aus ziemlich allen Staaten interniert, gegen die das Hitlerregime Krieg führte: aus Polen, Frankreich, Belgien, Großbritannien, Jugoslawien, Italien, USA, Tschechien, Griechenland, Niederlande, Kanada, Sowjetunion und französische Kolonialsoldaten aus Algerien, Marokko und dem Senegal. Die tägliche Durchschnittsbelegung in den Baracken auf den 480 000 Quadratmetern Grund außerhalb Sagans lag bei etwa 50 000 Mann. Insgesamt gingen durch Sagan und zwei angeschlossene Durchgangslager etwa 300 000 Soldaten.
Ob auch Edouard Mertens täglich nach der Arbeit zurück in dasLager nach Sagan gebracht wurde und dort unter den grausigen Zuständen litt, oder ob er und seine Kollegen, die im Goetzewerk arbeiten mussten, in dem Zweiglager in der Freystädter Straße untergebracht waren, wissen wir nicht.
Kriegsgefangene waren berechtigt, unentgeltlich Briefe zu bekommen und zu versenden, selbst Päckchen und Pakete aus ihren Heimatländern waren ihnen nach der Genfer Konvention erlaubt. Ihre Post wurde über die neutralen Länder Schweden und Schweiz ausgetauscht. Die sowjetischen Soldaten waren von dieser Regelung ausgenommen, da die Sowjetunion die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hatte und sowohl Deutschland als auch die Sowjetunion sich den Versuchen des Internationalen Roten
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