Die Frau des Diplomaten (German Edition)
atme tief ein und erfreue mich des süßlichen Dufts nach Geißblatt aus dem Garten, der die Terrasse auf ganzer Länge säumt. Über zwei Monate sind vergangen, seit man mich aus dem Lager befreit hat. Meine Genesung macht erfreuliche Fortschritte, die laut Dava die Erwartungen der Ärzte übertreffen. Die Operationsnarbe ist gut verheilt, und Schmerzen spüre ich fast nur noch, wenn es regnet.
„Marta“, sagt Rose und hält mir das Buch hin. „Möchtest du auch ein oder zwei Absätze lesen?“
Ich zögere und streiche mit der Handfläche über die warme steinerne Bank. Schon zuvor hatte Dava Rose unterbrochen und mich einen kürzeren Abschnitt lesen lassen, aber während ich mich durch die ersten Worte quälte, wurde klar, dass der Text noch zu schwer für mich ist. „Nein, danke.“ Rose spricht beinahe fließend Englisch, allerdings hat sie als Kind auch mehrere Sommer bei ihrer Tante in London verbracht. Ich dagegen nehme zusammen mit einigen anderen jeden Tag für eine Stunde an einem Englischkurs teil, der in der Schlossbibliothek angeboten wird. Die gesprochene Sprache lerne ich recht schnell, aber es fällt mir immer noch schwer, Texte zu lesen, die über das Niveau eines Kinderbuchs hinausgehen. Dava hilft mir, wenn sie Zeit erübrigen kann. Ihre Fähigkeiten als Sprachlehrerin sind wirklich bemerkenswert, was sie der Tatsache verdankt, dass ihr Vater als Dolmetscher gearbeitet hat. Russisch und Jiddisch hat sie von Kindheit an beherrscht, in Österreich kam noch Deutsch hinzu, und schließlich wurde sie auch in Englisch und Französisch unterrichtet.
Während Rose weiterliest, drehe ich mich zum Schloss, dessen Anblick mich jedes Mal von Neuem mit Ehrfurcht erfüllt. Schloss Leopoldskron ist ein imposantes Gebäude, links und rechts präsentieren sich dem Betrachter zwei beeindruckende Flügel. Das Erdgeschoss beherbergt unsere Station, außerdem eine weitere Station für die Männer, die in einem ehemaligen Ballsaal untergebracht sind. Ein prächtiges Foyer, von dessen hoher Decke ein prunkvoller Kristallleuchter herabhängt, trennt beide Bereiche voneinander. Zwei geschwungene Marmortreppen führen hinauf in den ersten Stock, wo sich die Bibliothek und eine kleine Kapelle befinden. Im zweiten Stock, in dem die Verwaltung ist, haben wir Patienten nichts zu suchen.
Rose hält am Kapitelende inne. „Wir sollten für heute aufhören“, meint Dava. „Ich möchte nicht, dass du dich überanstrengst.“
Besorgt betrachte ich Roses Gesicht. Es ist blass, mit dunklen Ringen unter den Augen. Rose hat sich nicht so mühelos erholt wie ich. Am Morgen nach ihrer Ankunft war sie nicht aufgewacht. Als ich Dava auf sie ansprach, erklärte sie, Rose sei neunzehn Jahre alt und stamme aus Amsterdam. Obwohl sie nur Halbjüdin ist, hat man sie von einem Lager ins nächste verfrachtet, zuletzt nach Theresienstadt in der Tschechoslowakei. Ich merkte an, dass das ja ein schlimmes Lager gewesen sein muss, wenn Rose dort so krank geworden ist. Aber Dava hielt dagegen, dass es schlimmere Lager gegeben hat. Roses Problem sei eine Blutkrankheit, die sich durch die schrecklichen Bedingungen nur noch verschlechtert habe. Was für eine Blutkrankheit das sein könnte, ist mir nicht bekannt, doch es hörte sich sehr ernst an. Ich wachte über Rose, als sie in den folgenden Tagen gegen ihre Krankheit ankämpfte, und informierte die Schwestern, sobald sie für ein paar Minuten wach war, damit sie ihre Medizin und etwas zu Trinken bekam. Dava sagte zwar, ich solle mich lieber um meine eigene Genesung kümmern, aber ich wollte sichergehen, dass Rose gesund wurde. Schließlich hatte ich ihr am Abend ihrer Ankunft versprochen, dass alles wieder gut wird.
Dann, eines morgens, wachte ich auf, und sie lag auf der Seite und sah mich mit ihren leuchtenden, fast violetten Augen an. „Hallo“, sagte sie.
„Hallo.“ Ich setzte mich auf. „Ich bin Marta.“
„Ich weiß. Ich erinnere mich an dich.“
Rose war zwar die meiste Zeit des Tages wach, doch ihr Zustand verbesserte sich nur schleppend. An guten Tagen wie heute kann sie eine Weile im Rollstuhl sitzen, doch sie ermüdet sehr schnell, und sie kann sich nicht ohne fremde Hilfe von der Stelle bewegen. „Es geht mir gut“, beharrt sie inzwischen. Ihre Wangen haben etwas mehr Farbe bekommen, auch wenn es fast so wirkt, als würde sie sie zum Erröten zwingen.
„Es wird regnen“, stellt Dava fest, als sie zum Himmel schaut. „Und es ist frischer geworden.“ Sie reckt sich,
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