Die Frau des Diplomaten (German Edition)
mal einem Schutthaufen ausweichen muss. In der Luft hängt ein Geruch, als wäre etwas verkohlt. Obwohl es erst früher Abend ist, herrscht auf den Straßen beängstigende Stille. In den wenigen erhaltenen Häusern ist alles dunkel, sodass es mir hier vorkommt wie im einstigen jüdischen Viertel von Kraków, nachdem man alle Bewohner verschleppt hatte. Ich sehe immer noch die Bilder vor mir, wie Gardinen aus eingeschlagenen Fensterscheiben wehen, und ich höre, wie bei jedem Schritt Glassplitter unter meinen Schuhsohlen knirschen.
Eine perverse Befriedigung regt sich in mir. Dann müssen die Deutschen also auch leiden. Gut so, denke ich und klammere mich fester an Paul. Wir fahren vorbei an einem Haus, von dem nur noch die Grundmauern stehen. Ich erkenne eine Frau mit drei kleinen Kindern, in der Nähe einen Mann, der eben einen Stuhl zerlegt – vermutlich für Brennholz. Das kleinste Kind, ein Junge von höchstens fünf Jahren, bemerkt uns und betrachtet uns mit großen Augen. Der Junge ist fast so abgemagert, wie ich es im Lager gewesen bin. Einen Moment lang überlege ich, ob er wohl zu uns laufen wird, um uns anzubetteln. Doch dann eilt der Mann zu ihm, zieht ihn zurück und schimpft mit ihm. Diese Kinder sind wie die, die wir vor langer Zeit in Paris gesehen haben, Kinder wie die auf der Fähre, mit der ich nach England übersetzte. Kinder wie Emmas Söhne. Das sind nicht die Deutschen, wie ich sie mir vorgestellt hatte. Meine Befriedigung verebbt gegen meinen Willen, stattdessen spüre ich nun einen Kloß im Hals.
Es ist so gut wie dunkel, als wir die Stadtmitte erreichen. Auf den Fußwegen sehe ich nun mehr Passanten, aber auf den Straßen sind außer einigen Bussen kaum Fahrzeuge unterwegs. „Nicht viele Autos“, stelle ich fest.
„Nur wenige Leute können sich momentan ein Auto leisten“, erklärt mir Paul. „Wir sollten das Motorrad loswerden, sonst machen wir nur unnötig auf uns aufmerksam.“ Er hält am Straßenrand und lässt mich absteigen. „Warte hier“, sagt er und fährt um die nächste Ecke. Ich stehe unterdessen auf dem Fußweg und beobachte die Passanten, blasse, abgemagerte Menschen, die schweigend an den Ruinen vorbeigehen, den Blick auf den Boden gerichtet. „Bist du so weit?“, fragt Paul, der plötzlich wieder hinter mir steht. Zielstrebig führt er mich durch die Stadt, biegt mal nach links, mal nach rechts ab.
„Weißt du, wohin wir gehen müssen?“, frage ich leise.
Er nickt. „Ich war in den letzten Monaten ein paarmal hier.“
„Diese Zerstörung …“ Ich deute rings umher. „Ich hatte keine Ahnung, dass es so schlimm ist.“
„Dann hättest du mal vor einem Jahr herkommen sollen“, erwidert er. „Sie fangen langsam mit dem Wiederaufbau an. Aber das wird noch sehr lange dauern.“ Wir biegen um die nächste Ecke. „Da wären wir. Oranienburger Straße.“ Die rechte Seite wird von einem gewaltigen Kuppelbau beherrscht. „Das ist die Neue Synagoge“, lässt er mich wissen, als wir uns dem Gebäude nähern. Ich sehe nach oben, ohne etwas zu entgegnen. In unserem Dorf bestand die Synagoge aus einem einzelnen Zimmer, das nicht größer war als unser Haus. Ein schlichter Vorhang teilte den Bereich ab, in dem die Frauen saßen. Unsere Synagoge in London ist schon deutlich größer, wirkt aber im Vergleich zu diesem Bauwerk winzig. Die Backsteinfassade erstreckt sich weit in die Höhe, darauf thront eine ausladende Kuppel. Zwei schmalere Türme im gleichen Stil flankieren das Bauwerk zu beiden Seiten. Allerdings befindet sich die Synagoge in einem erbärmlichen Zustand. So fehlt die gesamte Ostwand des Gebäudes, der Bereich über dem Haupteingang ist schwarz von Ruß.
Mir fällt ein, dass es Freitagabend ist. Vor dem Krieg müssen sich um diese Zeit Hunderte von Juden für die Sabbat-Gebete in der Synagoge aufgehalten haben, doch jetzt herrscht gespenstische Stille. Betrübt frage ich mich, ob überhaupt noch Juden in Berlin leben. „Wir sollten weitergehen“, drängt Paul leise und schaut beiläufig über die Schulter. Ich folge seinem Blick und entdecke einen Mann, der auf der anderen Straßenseite seinen Hund ausführt und uns neugierig beobachtet. Hat er uns verfolgt? Nein, der Mann wird sich lediglich wundern, warum wir uns so interessiert die Synagoge ansehen. Wir gehen weiter, bis Paul bemerkt: „Er ist weg.“
Ich drehe mich um und entdecke auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine winzige Buchhandlung in einem Wohnhaus. „Das muss es
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