Die Frau des Diplomaten (German Edition)
lege die Mappe zurück und will die Schublade schließen, doch aus irgendeinem Grund ist meine Neugier nicht gestillt. Wieder ziehe ich den Stapel Papiere hervor und durchsuche nun die untere Hälfte. Nur noch mehr Telegramme, weiter nichts. Dann aber entdecke ich ein gelbes Blatt, das etwas kleiner ist als die anderen. Ich ziehe es heraus und stelle fest, dass es in Russisch verfasst ist.
Mein Herz beginnt laut zu schlagen, während ich das Papier betrachte. Simon kann kein Russisch. Was will er mit dem Blatt anfangen? Ich überfliege den Text und versuche mir das kyrillische Alphabet in Erinnerung zu rufen, das mir meine Großmutter beibrachte. Ich kann einen Namen entziffern: Marek Andek. Das Telegramm ist auf den Tag datiert, an dem ich in Prag ankam und mich mit Marek traf. Am Folgetag wurde er verhaftet. Meine Hand zittert, als ich mir das nächste Dokument vornehme, abermals ein Telegramm in kyrillischer Schrift. Das trägt das Datum vom Tag darauf und erwähnt den Namen Jan Marcelitis sowie die Adresse in Berlin.
Ich lege den Stapel hin und lasse mich auf den Stuhl sinken, da meine Beine wegzuknicken drohen. Jemand hat Telegramme verschickt und auf Russisch Informationen über Marek und Jan weitergegeben. Aber wer? Und wieso sind sie in Simons Besitz? Vielleicht hat das etwas mit der Suche nach der undichten Stelle in der Abteilung zu tun. Aber warum hat Simon davon nichts erwähnt? Wieder sehe ich den Stapel Papiere durch und hoffe, eine Erklärung zu finden.
Noch einmal nehme ich die Aktenmappe heraus und lese den Zeitplan durch. Dmitri Borskin. Ein Flug von Luton Airport nach Moskau, heute Abend um acht. Darum muss es in dem Telefonat gegangen sein, das ich mit angehört habe. Hat Borskin etwas mit den Telegrammen zu tun? Die Buchstaben auf dem Blatt beginnen zu verschwimmen. Ich lege die Mappe zur Seite, reibe meine Augen und versuche mich zu konzentrieren. Als ich die Mappe wieder in die Hand nehme, fällt mir auf, dass die Rückseite sich fester anfühlt als die Vorderseite. Ich drehe die Mappe um und entdecke einen Umschlag, der auf dem dünnen Karton klebt. Neugierig löse ich das Klebeband ab. Lass die Finger davon, warnt mich eine innere Stimme, aber ich bin schon zu weit gegangen, als dass ich noch umkehren könnte. Ich öffne den Umschlag, wobei ich versuche, so behutsam wie möglich vorzugehen. Ein Blatt Papier rutscht heraus und landet auf dem Boden. Ich hebe es auf und merke, dass es ein Foto ist. Auf der Rückseite ist etwas handschriftlich in Kyrillisch notiert. Ich sehe mir die Buchstaben an, sie ergeben den Namen Dmitri Borskin. Als ich dann das Foto umdrehe, bleibt mein Herz einen Moment lang stehen.
Das Foto zeigt … Simon.
Verständnislos starre ich auf das Foto. Das muss ein Irrtum sein. Der abgebildete Mann ist deutlich jünger, sein Haar ist voller, der Schnauzbart buschiger, aber die Augen … die Augen lassen keinen Zweifel zu. Meine Wangen beginnen zu glühen. Sind Simon und Dmitri Borskin ein und dieselbe Person? Ich muss wieder an die Telegramme denken, die sich auf mein Treffen mit Marek und auf Marcelitis’ Adresse in Berlin beziehen. Simon ist die undichte Stelle . Angst und Unglauben überkommen mich.
Wieder nehme ich mir den Reiseplan vor. Borskin soll heute Abend nach Moskau fliegen. Simon will offenbar aus England fliehen. Mit dem Dokument in der Hand laufe ich aus dem Arbeitszimmer in unser Schlafzimmer, reiße seinen Schrank auf und erwarte, ihn leer geräumt zu finden. Aber Simons Anzüge hängen ordentlich auf ihren Bügeln, nur die Smokingjacke fehlt, die er trug, als er das Haus verließ. Erleichtert lehne ich mich gegen den Schrank. Seine Sachen sind noch alle hier, das Ganze muss ein Missverständnis sein. Abermals sehe ich mir den Zeitplan an. Er besagt zweifelsfrei, dass Borskin heute Abend nach Moskau fliegt. Am unteren Rand fällt mir plötzlich ein Kästchen auf, das die Zahl der Reisenden angibt: drei.
Simon verlässt das Land, und er reist nicht alleine. Rachel! Mir gefriert das Blut in den Adern. Ich lasse das Papier fallen und stürme aus dem Schlafzimmer. „Rachel!“, rufe ich, als ich ins dunkle Kinderzimmer renne. Es kommt keine Antwort. Noch bevor ich in das Bettchen fasse, weiß ich, dass meine Hände ins Leere greifen werden. Meine Tochter ist weg!
27. KAPITEL
Sekundenlang stehe ich im Kinderzimmer und bin nicht in der Lage, mich zu rühren. „Rachel?“, rufe ich und hoffe vergebens, es könnte ihr gelungen sein, aus ihrem Bettchen zu
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