Die Frau des Diplomaten (German Edition)
zu. Die braunen Sitze sind abgewetzt, im Wagen riecht es nach kaltem Zigarettenqualm. Wortlos gibt Johann Gas, und das Fahrzeug macht einen Satz nach vorn. Als wir das Gelände verlassen, wird mir bewusst, dass wir den gleichen Weg nehmen, den auch Paul heute Morgen genommen hat. Ich wünschte, er wäre bei mir. Oder Rose. Oder Dava. Irgendjemand, ganz gleich wer. Zum ersten Mal seit meiner Befreiung bin ich ganz auf mich allein gestellt. Übelkeit überkommt mich, und ich verspüre den plötzlichen Wunsch, Johann zu bitten, umzukehren. Ich sehe zurück, doch das Schloss ist bereits hinter den dicht stehenden Bäumen verschwunden. Dann höre ich Davas Stimme in meinem Kopf. Schau nicht zurück. Ich kann das, sage ich mir. Ich muss es können. Entschlossen drehe ich mich wieder nach vorn und stelle mich dem, was mich erwartet.
6. KAPITEL
Ich sehe aus dem mit Schmutz und Ruß überzogenen Abteilfenster und muss ins grelle Sonnenlicht blinzeln. Draußen ziehen Felder und Wiesen vorüber, die sich bis zum Horizont erstrecken. Nachdem wir gestern Abend die Grenze zur Schweiz überquert hatten, lullte mich das sanfte Schaukeln des Zuges in den Schlaf, während wir uns unseren Weg durch die Berge bahnten.
Irgendwann mitten in der Nacht wurde ich unsanft von einem Zöllner geweckt, der an der nächsten Grenze meine Papiere sehen wollte. Als ich heute Morgen erneut erwachte, fuhren wir bereits durch eine sanfte französische Hügellandschaft. Die schroffen Alpen lagen da bereits weit hinter uns. Am Stand der Sonne kann ich erkennen, dass wir jetzt nach Norden unterwegs sind.
Ich strecke mich und sehe mich im Abteil um. Mein Platz ist einer von dreien in einer Sitzreihe, uns gegenüber gibt es eine weitere Bank. Der Waggon ist in einem vernachlässigten Zustand, die Polster sind zerschlissen und mit Flecken übersät. Als ich hier einstieg, saß mir ein älterer Mann gegenüber, der sich nicht mit mir unterhalten wollte. Jetzt ist er nicht mehr da. Die Luft ist über Nacht stickiger geworden und riecht nach saurer Milch. Ich will das Fenster öffnen, doch meine Anstrengungen sind vergebens.
Wieder sehe ich nach draußen. Laut dem Fahrplan, den Dava mir gegeben hat, wird es noch einige Stunden dauern, bis wir Lille erreichen. Mein Magen knurrt. Gestern habe ich überhaupt nichts mehr gegessen, schließlich waren meine Gedanken nur um Rose und um die Tatsache gekreist, dass ich das Lager verlassen würde. Ich öffne den kleinen Beutel, den ich auf den Sitz neben mir gestellt habe. Dava hat mir drei Brote geschmiert, eines mit Wurst, zwei mit Käse. Ich packe das Käsebrot aus und beiße ab. Das Brot ist trocken, aber sein Geschmack ist mir vertraut und erinnert mich auf tröstende Weise an meine Zeit in Salzburg.
Während ich esse, lasse ich meinen Blick über die Landschaft schweifen, die an mir vorbeifliegt. Mitten auf einer Wiese steht ein großer, verkohlter Metallklotz von der Größe einer Kutsche. Das muss ein Panzer gewesen sein, die habe ich in Polen öfter gesehen. Vor nicht einmal einem Jahr war diese friedliche Umgebung dort draußen noch Kampfgebiet gewesen. Vor meinem geistigen Auge entsteht das Bild von Soldaten, und sofort denke ich an Paul. Es ist kaum zu fassen, dass sich unsere Wege erst gestern getrennt haben. In Europa wird nicht mehr gekämpft, aber er sprach davon, dass man ihn in den Pazifik abbestellen könne. Ich frage mich, wo er jetzt ist, und in einem Anflug von Egoismus überlege ich, ob er wohl zwischendurch auch einmal an mich denkt.
Mein Blick fällt auf die verbleibenden zwei Brote. Ich bin nach wie vor hungrig, aber ich wage nicht, jetzt noch mehr zu essen. Wir sind immer noch etliche Stunden von unserem Ziel an der Küste entfernt, und ich weiß nicht, ob ich im Hafen oder auf der Fähre Proviant kaufen kann – und selbst wenn, habe ich keine Ahnung, wie viel mich das kosten würde.
Ein plötzliches Kreischen holt mich aus meinen Gedanken, und ich merke, wie der Zug allmählich abbremst. Das Quietschen der Bremsen wird noch lauter und durchdringender, bis der Zug endlich zum Stillstand kommt. Ich drücke die Stirn gegen die Scheibe und verrenke meinen Hals, weil ich erkennen will, ob vor uns der nächste Bahnhof liegt. Doch so weit ich blicken kann, sehe ich nur endlos weite Felder. Warum haben wir angehalten?
Fünf Minuten verstreichen, schließlich zehn, und ich werde immer unruhiger. Ist etwas passiert? Hat die Lok einen Defekt? Durch die Abteiltür sehe ich, wie ein Schaffner
Weitere Kostenlose Bücher