Die Frau des Diplomaten (German Edition)
und zähle insgesamt vier Stationen. Hoffentlich reicht die Zeit. Was soll aus mir werden, wenn ich zu spät bei der Botschaft ankomme? Die nächste Haltestelle ist erreicht, einige Fahrgäste steigen aus, andere kommen hinzu, sodass es noch beengter wird. Nur noch drei Stationen, denke ich, als die Bahn in den pechschwarzen Tunnel einfährt. Plötzlich hält der Zug an, die Fahrgäste stöhnen auf und murmeln etwas, das ich nicht verstehe. Warum halten wir? Ich kann einen Blick auf die Armbanduhr eines Mannes werfen. Fünf nach halb fünf. Ich werde es nicht mehr schaffen. Kalter Schweiß bricht mir aus.
Die Bahn setzt sich wieder in Bewegung. Die zweite Station, dann die dritte. Schließlich zwänge ich mich durch die Menge, um rechtzeitig zur Tür zu gelangen. Endlich erreichen wir die Station Madeleine. Als sich die Türen öffnen, dränge ich mich zwischen den Menschen hinaus und hetze über den Bahnsteig und die Treppe hinauf ins Freie. Oben angekommen, bleibe ich stehen, da mir der Atem stockt. Vor mir befindet sich die gewaltigste Straßenkreuzung, die ich je gesehen habe. Busse und Autos sind auf mehreren Spuren je Fahrtrichtung unterwegs, zu beiden Seiten wird die Straße von imposanten Bauwerken gesäumt. Die Städte, die ich bislang gesehen habe – Kraków und Salzburg –, sind kein Vergleich zu diesem überwältigenden Anblick, der für einen Moment meinen Verstand betäubt.
Aber ich habe jetzt keine Zeit, die Pracht auf mich wirken zu lassen. Von irgendwoher ertönt eine Glocke und reißt mich aus meiner Erstarrtheit. Viertel vor fünf zeigt die Kirchturmuhr auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Botschaft schließt in fünfzehn Minuten. Ich sehe nach links und rechts und versuche mich zu orientieren. Rue Royale sagt das Straßenschild an der Ecke. Ich drehe mich nach links, wie der Schaffner es gesagt hat, und laufe zur nächsten großen Kreuzung. In einiger Entfernung erkenne ich ein ausladendes graues Gebäude, auf dem Dach wehen Fahnen. Das muss die Botschaft sein! Ich wechsle vom Fußweg auf die Fahrbahn und mache erschrocken einen Satz nach hinten, als ein Wagen wütend zu hupen beginnt. Natürlich! Die Ampel zeigt Rot. Ich warte, bis sie auf Grün umschlägt, dann renne ich auf die andere Straßenseite, so schnell ich nur kann. Ich bin nur noch fünfzig Meter entfernt, dann zwanzig, und schließlich habe ich das Gebäude mit den hohen Säulen und der britischen Flagge auf dem Dach erreicht.
Ich laufe zum Wachhäuschen gleich neben dem Tor. „Ich möchte zu jemandem, der für Visa zuständig ist, bitte“, erkläre ich auf Englisch, während ich nach Luft schnappe.
„Das Konsulat ist geschlossen, Ma’am.“
„Aber es ist erst kurz vor fünf …“
Der Mann schüttelt den Kopf. „Einlass ist nur bis halb fünf.“
„Bitte“, flehe ich ihn an, hole mein Visum heraus und zeige es ihm. „Ich muss unbedingt heute noch mit jemandem sprechen.“
Er sieht das Dokument gar nicht erst an. „Sie müssen schon morgen wiederkommen.“
„Aber morgen ist es zu spät.“
„Bedaure, aber ich kann nichts für Sie tun.“
Ich gehe einen Schritt nach hinten, mir ist, als hätte mir jemand einen schweren Stein gegen die Brust geschleudert. Ich bin zu spät. Die Botschaft ist geschlossen. Ich stecke das Visum ein und stolpere weiter. Auf dem Boulevard wimmelt es von Männern in Anzügen, die vermutlich auf dem Weg von der Arbeit nach Hause sind. Hier und da gehen einige jüngere in Gruppen, um sich noch ein wenig zu amüsieren. Es sind Menschen, die ein ganz normales Leben führen. Menschen, die hier zu Hause sind. Meine Augen beginnen zu brennen, ungeduldig wische ich mit der Hand darüber. Weinen hilft jetzt auch nicht weiter. Ich muss überlegen, was ich tun kann.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite entdecke ich einen kleinen Park. Ich gehe hinüber und laufe einen der mit hohen Bäumen gesäumten Wege entlang. Die Sonne schickt ihre Strahlen durch die Baumkronen. Auf den Bänken sitzen Menschen und genießen den Sommerabend. Eine Frau strickt etwas, zu ihren Füßen hat sich ein Hund niedergelegt. Ein Stück weiter spielen zwei alte Männer Schach, Passanten bleiben stehen und verfolgen jeden Zug. Andere haben sich ins Gras gelegt, rauchen Zigaretten oder lesen Bücher.
Ich gehe auf einen Brunnen zu und finde einen freien Platz auf einer der Bänke. Ich setze mich neben einen Mann, der seine Zeitung liest und von mir keine Notiz zu nehmen scheint. Auf der Bank gegenüber
Weitere Kostenlose Bücher