Die Frau des Diplomaten (German Edition)
vorbeigeht. Ich nehme meinen Mut zusammen, gehe zur Tür und öffne sie. Ich spreche so gut wie kein Wort Französisch, also versuche ich es auf Deutsch. „Entschuldigen Sie bitte.“
Der Mann dreht sich gereizt zu mir um. „Ja?“
„Warum halten wir?“, frage ich.
„Die Gleise sind zerstört. Davon war nichts bekannt, als wir losgefahren sind“, antwortet er in einem schwer verständlichen, von einem breiten Akzent gefärbten Deutsch. „Wir werden auf ein anderes Gleis wechseln und dann nach Paris fahren.“
Panik erfasst mich. „Aber meine Fähre legt heute Abend um sechs ab, und ich muss sie unbedingt erreichen.“
„Sie sind nicht die Einzige, die ein Schiff erreichen muss, Fräulein“, erwidert er. „Sie können morgen von Paris nach Calais fahren. Da legen jeden Tag Fähren ab.“ Damit dreht er sich um und eilt weiter durch den Gang.
Ich lasse die Abteiltür zufallen und sinke auf meinen Platz zurück. Mein Visum läuft heute Abend ab! Ich werde es niemals rechtzeitig schaffen. Mein Magen verkrampft sich, während ich fieberhaft überlege, was ich tun soll. Das Geld, das Dava mir mitgegeben hat, wird für eine Rückfahrkarte nach Österreich nicht reichen. Wenn ich es nicht bis nach England schaffe, sitze ich in Frankreich fest.
Verzweifelt hole ich das Visum hervor und versuche, die mir fremden Worte zu verstehen. Als ich das eingeprägte Siegel betrachte, kommt mir der Gedanke, dass es in Paris doch sicher eine britische Botschaft gibt. Vielleicht kann ich sie aufsuchen und meine Situation erklären. Aber kann ich es wirklich wagen, mit einem Visum, das gar nicht für mich bestimmt ist, die Botschaft zu betreten? Es ist meine einzige Hoffnung. Mit den Papieren in der Hand lehne ich mich zurück und bete für ein Wunder, während sich der Zug langsam in die entgegengesetzte Richtung in Bewegung setzt.
Als wir in den Gare de l’Est einfahren, stehe ich mit meinem Gepäck bereits an der Wagentür. Der Zug ist noch nicht ganz zum Stehen gekommen, da öffne ich bereits die Tür und springe auf den Bahnsteig. Mehr als sieben Stunden sind vergangen, seit wir auf dem platten Land kehrtmachen mussten, um von dort quälend langsam nach Paris zu gondeln. Unterwegs musste ich immer wieder den Wunsch unterdrücken, vor Wut und Hilflosigkeit laut zu schreien. Irgendwann fragte ich den Schaffner nach dem Weg zur britischen Botschaft, und legte mir dann die Worte zurecht, die ich brauchen würde.
Ich laufe über den Bahnsteig, bleibe orientierungslos stehen und betrachte die Hinweisschilder mit den mir unverständlichen französischen Worten darauf. Der Bahnhof ist von Reisenden überfüllt – Alleinreisende, Scharen von Soldaten und Familien, die anscheinend ihr ganzes Hab und Gut in großen Taschen mit sich führen. Rechts von mir entdecke ich ein Schild mit einem großen M darauf. Der Schaffner hatte gesagt, dass ich die Botschaft am schnellsten erreiche, wenn ich mit der Métro bis zur Station Madeleine fahre.
Ich bahne mir meinen Weg durch die Menge und erreiche den Eingang zur Métro, halte aber inne, als ich die Treppe sehe, die hinunterführt in ein dunkles Loch, aus dem mir ein muffiger Gestank entgegenschlägt. Soll das tatsächlich der richtige Weg sein? Ich habe zwar schon von Untergrundbahnen gelesen, aber gefahren bin ich noch mit keiner. Der Schaffner sagte allerdings auch, dass die Strecke zu Fuß zu weit sei, und welchen Bus ich nehmen könnte, weiß ich nicht. Außerdem haben wir bereits zwanzig nach vier, und um fünf schließt die Botschaft. Indem ich immer zwei Stufen auf einmal nehme, eile ich die Treppe hinunter und halte mich dabei am Geländer fest, damit ich nicht falle. Am Fuß der Treppe angelangt, entdecke ich einen Plan, der den Verlauf der verschiedenen Bahnlinien zeigt. Eine Linie verläuft zwischen diesem Bahnhof hier und der Station Madeleine. Am Schalter kaufe ich eine Fahrkarte, dann folge ich den Hinweisschildern auf einen überfüllten Bahnsteig. Minuten später fährt polternd eine Bahn in die Station ein, ich steige mit den anderen Wartenden ein und finde mich eingezwängt zwischen einem alten Mann und einer Gruppe Schulmädchen wieder. Einen freien Sitzplatz gibt es nicht, also greife ich eilig nach einer Haltestange.
Die Türen schließen, die Bahn setzt sich in Bewegung. Aus dem Lautsprecher ertönt eine Stimme und verkündigt in verzerrtem Französisch die nächste Haltestelle. Woher weiß ich, wann ich aussteigen muss? Ich denke an den Linienplan zurück
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