Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Signalhorn ertönt, und ich gehe mit den anderen zu der Rampe, die auf das Schiff führt. Am Fuß der Rampe angelangt, bleibe ich abermals stehen, da meine Nerven mit mir durchzugehen drohen. Die übrigen Passagiere strömen an mir vorbei. Warum mache ich das eigentlich? Es wäre so viel leichter, nach Paris zurückzukehren und mit Paul darauf zu warten, dass wir in die Staaten reisen dürfen. Aber dann regt sich meine starrsinnige Seite. Ich muss nach London fahren. Ich muss es für Rose tun. Plötzlich kommt es mir so vor, als würde sie neben mir stehen. „Komm schon“, höre ich sie sagen, während sie meine Hand nimmt. Ich atme einmal tief durch, dann gehe ich los.
Oben angekommen, zeige ich dem Zahlmeister meine Fahrkarte, er stempelt sie ab. Dann mache ich einen Schritt nach vorn und bleibe kurz stehen, um mich zu orientieren. Auf dem Deck gleich vor mir drängen sich überwiegend Männer, die nach Arbeitern aussehen. Als mir die Mutter mit den vier Kindern auffällt, die in der Schlange vor mir gestanden haben, will ich auf sie zugehen. „Ma’am“, ruft der Zahlmeister mir nach. Ich drehe mich zu ihm um und überlege ängstlich, ob ich irgendetwas verkehrt gemacht habe. Er aber zeigt auf eine Wendeltreppe, die nach oben führt. „Ihre Fahrkarte ist für die Erste Klasse.“
„Aber …“ Ich sehe mir die Fahrkarte genauer an. Dava hätte nur das Geld für die einfache Klasse aufbringen können, und sie ist viel zu praktisch veranlagt, als dass sie mit Roses Erspartem so großzügig umgegangen wäre. Paul, denke ich. Er muss das für mich getan haben, als er die Fahrkarte umbuchen ließ.
Ich gehe die Treppe hinauf und betrete zögernd das obere Deck. Hier kommt man sich wie in einer anderen Welt vor, es herrscht Ordnung statt Gedränge, die Promenade aus hellem Holz vermittelt den Eindruck von Weite und Ruhe. Ein Aufbau mit großen Fenstern nimmt die Mitte des Decks ein, darin erkenne ich Tische und Stühle. Passagiere in Kleidern aus feinem Leinen haben sich auf den Liegestühlen niedergelassen. Andere stehen in Gruppen beisammen, trinken Tee und unterhalten sich, während sie von großen Schirmen vor der hellen Sonne geschützt werden. Ich merke, wie sich die Blicke auf mich richten, auf mein Kleid aus grobem Stoff und auf meine klobigen Schuhe. Mein Gesicht färbt sich rot. Ich gehöre nicht hierher, ich wende mich hastig ab und entferne mich mit zügigen Schritten von diesen Leuten, um zum Vorderdeck zu gehen.
Ein lautes Vibrieren unter meinen Füßen verrät mir, dass die Fähre ablegt. Mein Magen verkrampft sich. Ich reise nach England. Noch vor ein paar Tagen wäre das das Größte gewesen. Und natürlich bin ich immer noch froh, dass ich mein Versprechen einlösen und Roses Tante besuchen kann. Doch diese Reise bedeutet jetzt auch, Paul zu verlassen. Ich halte mir vor Augen, dass es sich nur um zwei Wochen handelt. Dennoch überkommt mich Traurigkeit, als ich über die Schulter hinweg zur Küste blicke.
Ich beherzige Davas Rat und schaue entschlossen nach vorn. Erleichtert stelle ich fest, dass dieser Teil des Decks fast menschenleer ist. Womöglich liegt es daran, dass hier keine Liegestühle stehen und vom Bug her ein kräftiger Wind weht. Wie gebannt lasse ich meinen Blick über das Meer schweifen. Das Wasser ist aufgewühlt, Schaumkronen durchsetzen die glitzernde grüne Oberfläche. Möwen stürzen sich in die Tiefe, um etwas Essbares zu erhaschen, und fliegen dann gleich wieder gen Himmel.
Plötzlich neigt sich das Schiff nach rechts, und ich verliere den Halt und falle. Mit den Händen bremse ich meinen Sturz. „Vorsicht!“, höre ich jemanden auf Englisch sagen, dann legt sich eine Hand um meinen Arm. „Haben Sie sich etwas getan?“
Ich richte mich auf, meine Handflächen tun mir weh. Vor mir steht der blonde Mann, der in der Schlange neben mir gewartet hat. Sein orangerotes Getränk ist über den Glasrand gespritzt und über seine Hand gelaufen. Ein einzelner Tropfen ist auf dem weißen Stoff seines Jacketts gelandet, doch das scheint er nicht zu bemerken. Besorgt sieht er mich an. „Nein, mir geht es gut“, erwidere ich und klopfe glättend über meinen Rock.
„Ich hätte es nicht gern gesehen, wenn Sie über Bord gegangen wären“, fügt er lächelnd hinzu und hält meinen rechten Arm noch immer fest.
„Danke.“ Nur langsam ziehe ich mich zurück, da ich nicht unhöflich wirken möchte. Aus der Nähe erkenne ich, dass er höchstens Anfang dreißig ist, auch wenn
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