Die Frau des Diplomaten (German Edition)
Paul mich schon schlimmer zu Gesicht bekommen hat, dennoch möchte ich schön für ihn aussehen, damit er seine Entscheidung, mich zu heiraten, nicht gleich bereut.
Die Tische rund um den Imbiss sind alle belegt, also gehe ich mit meinem Kaffee und dem Sandwich quer durch die Bahnhofshalle. Von meinem Brot beiße ich ab, während ich mir die Auslagen der Geschäfte ansehe. Vor einem Geschäft picken Tauben heruntergefallene Krümel auf, bis plötzlich der Ladenbesitzer mit einem Besen nach draußen kommt und die Tiere verscheucht. Am Zeitungsstand bleibe ich stehen und lese die Schlagzeilen der Times . Delia hat den Guardian abonniert, und fast jeden Abend setze ich mich mit Zeitung und Wörterbuch bewaffnet aufs Sofa, um so viel wie möglich zu lernen. Heute hatte ich dafür natürlich keine Zeit. Ich esse mein Sandwich auf und nehme die oberste Zeitung zur Hand. Im Hauptartikel geht es um die Besetzung von Deutschland, so viel kann ich der Schlagzeile entnehmen. Nein, über Deutschland möchte ich im Moment ganz sicher nicht nachdenken. Mein Blick fällt auf eine andere Überschrift. Exil-Polen warnen vor Katastrophe. Ich halte die Zeitung etwas dichter vor meine Augen und versuche zu verstehen, um was es geht. Alles kann ich nicht übersetzen, aber ich verstehe, dass die Sowjets ihren Einfluss auf die polnische Regierung festigen. Das erinnert mich an meine Unterhaltung mit Simon Gold. Der Krieg gegen die Kommunisten werde der nächste große Krieg werden, hatte er gesagt. Betrübt denke ich an Polen, das jetzt nicht mehr von den Deutschen, stattdessen jedoch von den Russen besetzt wird. So hatten wir uns das nicht vorgestellt, als wir für unsere Freiheit kämpften.
„Wollen Sie die kaufen oder nicht?“, ruft mir der Mann hinter der Theke zu. „Das hier ist keine Bibliothek.“
Ich lege die Zeitung zurück. „Entschuldigen Sie.“ Ich sehe zur großen Uhr über der Anzeigentafel. Zehn nach acht. Zu meiner Verwunderung ist die Zeit wie im Flug vergangen. Eilig kehre ich zurück auf den Bahnsteig, wo in diesen Sekunden der nächste Zug einfährt. Er ist längst nicht so voll wie der letzte, und nur wenige Fahrgäste steigen aus. Ganz hinten entdecke ich einen Soldaten auf dem Bahnsteig. Paul! Ich laufe los, doch beim Näherkommen wird mir klar, dass er es gar nicht ist. Ich überlege, ob ich den Soldaten ansprechen soll. Vielleicht kennt er Paul und weiß, wo er abgeblieben ist. Aber der Mann hastet an mir vorbei über den Bahnsteig zu einer jungen blonden Frau, die mit ausgebreiteten Armen auf ihn wartet. Ich drehe mich weg, da ich nicht mit ansehen will, wie die beiden sich umarmen.
Abermals wende ich mich an den Schaffner. „Und wann kommt der nächste Zug aus Cambridge?“
Er schüttelt den Kopf. „Heute nicht mehr, erst morgen wieder.“
Panik überkommt mich. Hat Paul es sich anders überlegt? Oder gab es eine Verzögerung, und er wurde nicht rechtzeitig aus der Armee entlassen? Ich kehre zurück in die Bahnhofshalle und lasse mich auf eine Bank sinken. Auf der Anzeigentafel werden nur noch zwei Züge angekündigt, einer aus Edinburgh, ein anderer aus Newcastle. Er wird schon auftauchen, versuche ich mich zu beruhigen. Mein Magen lässt sich jedoch nicht beschwichtigen und verkrampft sich vor Unbehagen.
Ich sehe mich in der fast menschenleeren Halle um und überlege, was ich jetzt tun soll. Unentschlossen fasse ich nach der Halskette und ziehe Pauls Marken aus dem Ausschnitt meines Kleides. Seit er sie mir gab, habe ich die Kette nicht mehr abgelegt. Mit den Fingern streiche ich über die ins Blech geprägten Buchstaben, dann lasse ich mutlos die Schultern sinken. Eine halbe Stunde sitze ich da, dann eine Stunde. Am Zeitungsstand wird das Licht gelöscht. Ein Ladenbesitzer gegenüber dem Imbissstand verriegelt die Tür mit einem Vorhängeschloss.
„Ma’am?“ Ich drehe mich um, neben mir steht der Schaffner, den ich vorhin angesprochen habe. „Geht es Ihnen gut? Soll ich Ihnen ein Taxi rufen?“ Verwundert sehe ich ihn an, dann fällt mein Blick auf die Anzeigetafel. Es ist fast zehn Uhr, heute wird kein Zug mehr den Bahnhof erreichen.
„Das ist nicht nötig“, meldet sich eine Männerstimme hinter mir. Paul, denke ich im ersten Moment. Aber dafür ist die Stimme viel zu alt, und der Akzent ist eindeutig britisch. Ich fahre herum und sehe Charles vor mir. „Der Wagen wartet auf Sie, Miss.“
Der Schaffner sieht uns erstaunt an, dann wünscht er mir einen guten Abend und schlurft
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