Die Frau des Diplomaten (German Edition)
einen tiefen Schlaf und sehe dabei Pauls Gesicht vor mir.
11. KAPITEL
„Danke“, sage ich, als ich aus dem Taxi steige. Vor mir reckt sich der Bahnhof Kings Cross in den Himmel, Scharen von Reisenden strömen durch die Türen hinein und heraus. Ein wohliger Schauer überläuft mich, denn in nicht mal einer Stunde werde ich Paul wiedersehen.
Ich schließe mich der Menschenmenge an, deren Strom mich ins Bahnhofsgebäude zieht. Auf der rechten Seite reiht sich ein Geschäft ans nächste, gleich gegenüber geht es zu den Bahnsteigen. Die Gleise führen aus der riesigen Halle hinaus und verlieren sich irgendwo am Horizont.
Ich gehe zu der großen Anzeigentafel, die alle ankommenden und abfahrenden Züge ankündigt. Mit lautem Rattern schlagen die Ziffern und Buchstaben um, sobald die Anzeige aktualisiert wird. Paul hat nicht gesagt, aus welcher Richtung er kommen wird, und ich weiß auch keine Zugnummer. Als ich mir vor ein paar Tagen einen Stadtplan von London angesehen habe, war ich erstaunt, dass er sich ausgerechnet diesen Bahnhof ausgesucht hat. Kings Cross liegt im Norden der Stadt, und dort kommen gar keine Züge aus Dover an. Dank Delia weiß ich mittlerweile, dass sich nördlich von London verschiedene Militärstützpunkte der Amerikaner befinden. Paul ist wahrscheinlich mit seiner Einheit nach England geflogen und nimmt eine Zugverbindung über Cambridge. Auf der Tafel wird ein Zug aus Cambridge angezeigt, der um Viertel nach sieben auf Gleis drei einfahren wird, also in fünfundvierzig Minuten.
Bestimmt ist das Pauls Zug! Wieder lässt mich die Vorfreude erschauern. Natürlich weiß ich nicht mit Sicherheit, dass er in diesem Zug sitzt. Sieben Uhr – das hat er mit mir vereinbart, als er noch gar nicht genau wusste, wann er in England sein würde. Gut möglich, dass er schon viel früher eingetroffen ist. Ich drehe mich um und überblicke suchend die Menschenmenge, während ich heimlich hoffe, ihn dabei zu entdecken, wie er einen Kaffee trinkt oder am Zeitungsstand die Schlagzeilen liest. Aber er ist nicht da. Es ist ja auch noch nicht sieben, sage ich mir, um die Enttäuschung im Keim zu ersticken. Ich hatte mir vorgenommen, mich früh auf den Weg zu machen, um mit der U-Bahn zum Bahnhof zu fahren. Doch kurz bevor ich aufbrechen konnte, bot mir Delia an, mich zu begleiten. Zumindest aber sollte mich Charles mit dem Wagen fahren. Ich lehnte ab, da ich mein Wiedersehen mit Paul lieber allein feiern wollte. Schließlich aber bestand Delia darauf, dass ich wenigstens ein Taxi nehme und drückte mir etwas Geld dafür in die Hand.
Delias liebes Gesicht taucht vor meinem inneren Auge auf. Sie ist so gastfreundlich und nett, und das, obwohl sie so sehr um Rose trauert. „Ich werde dir London von seiner schönsten Seite zeigen“, verkündete sie gleich am Morgen nach meiner Ankunft. Im Verlauf der sich anschließenden zwei Wochen führte sie mich mit einer Energie und Ausdauer durch die Stadt, die ich ihr kaum zugetraut hätte. Wir tranken Tee bei Fortnum & Mason, sahen uns den Tower of London, Westminster Abbey und das gewaltige Parlamentsgebäude an, und schlenderten durch Kensington. Einmal, als es zu regnerisch für einen Stadtbummel war, nahm sie mich sogar mit ins Odeon-Kino am Leicester Square, wo wir uns Henry V. mit Laurence Olivier in der Hauptrolle ansahen.
Wir hatten uns immer etwas zu erzählen, ob wir nun beim Essen saßen oder ob wir spazieren gingen. Ich erzählte ihr von Rose und unserer gemeinsamen Zeit in Österreich. Delia berichtete im Gegenzug, wie sie als junge Frau nach Italien, Südfrankreich und sogar nach Marokko gereist war. Als hätten wir uns wortlos darauf geeinigt, vermieden wir alle traurigen Geschichten. Ich verschwieg, in welcher Verfassung man Rose ins Auffanglager gebracht hatte, und auch über meine Zeit in Gefangenschaft sagte ich nichts. Ich ahnte, dass Delia ebenfalls einiges zu berichten gehabt hätte. Wie viele Nächte sie wohl mit Charles im Keller ihres Hauses verbracht hat, während die deutschen Bomber über die Stadt flogen! Keine von uns will auch nur noch einen Funken Leid ertragen.
Die Tage bei Delia waren wunderbar, und ich bin ihr für ihre Großzügigkeit von Herzen dankbar. Doch an jedem Abend, den ich in den letzten zwei Wochen zu Bett gegangen bin, hakte ich im Geiste nur wieder einen weiteren Tag im Kalender ab: acht Tage, noch sechs Tage, noch vier Tage und so weiter, bis ich Paul wiedersehen würde. Vor zwei Tagen erreichte mich eine Ansichtskarte
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