Die Frau des Diplomaten (German Edition)
allmählich schlafe ich ein.
Irgendwann wache ich auf. Wie viel Zeit ist vergangen? Der Saal ist in Dunkelheit getaucht, nur der Mond sorgt für etwas Licht, das beharrlich durch die zugezogenen Vorhänge scheint. Ich höre den angestrengten Atem kranker Frauen, die zu schlafen versuchen. Vom anderen Ende des Raums dringt leises Schluchzen herüber.
Ich schlucke, weil mein Hals wie ausgedörrt ist. Dann setze ich mich auf und greife nach dem Glas, das Dava mir halb voll hingestellt hatte. Nach einem kleinen Schluck stelle ich es zurück und bemerke mehrere glänzende Gegenstände auf dem Nachttisch, die zuvor nicht dort gelegen haben. Brillen! Neugierig nehme ich eine von ihnen und setze sie auf, doch ich sehe weiterhin alles nur verschwommen. Diese Gläser sind viel zu schwach für mich. Schnell greife ich nach der nächsten Brille, aber sie entpuppt sich als noch schwächer. Enttäuschung kommt in mir auf, als ich sie wieder absetze. Was, wenn keine von ihnen passt? Die dritte ist so stark, dass ich sofort Kopfschmerzen bekomme. Ich schaue wieder zum Nachttisch. Zwei Brillen sind übrig. Ob sie weitere Brillen haben, falls ich mit den beiden auch nichts anfangen kann? Ich setze die nächste Brille auf und halte gebannt den Atem an, dann mache ich die Augen auf und … kann alles scharf sehen! Das sind ziemlich genau die richtigen Gläser. Ich kann wieder sehen!
Als ich mich zum Fenster drehe, geht ein Stich durch meine Seite, weil ich mich zu hastig bewegt habe. Ich ziehe die Vorhänge auf, und dann stockt mein Atem sekundenlang. Majestätische, schneebedeckte Berge säumen den Horizont, ihre schroffen Spitzen reichen fast bis zu den Sternen. Die Alpen. Eine Gänsehaut überläuft mich. Am Fuß der Berge kann ich einen großen See erkennen, dessen glatte Oberfläche wie ein Spiegel wirkt.
Wieder sehe ich hinauf zu den Bergen und kann kaum glauben, dass etwas so Schönes tatsächlich existiert. Wieso bin ausgerechnet ich hier? Wie kann ich ein solches Glück haben, während bei so vielen anderen nur der Tod am Ende der Höllenqualen stand? Tränen steigen mir in die Augen. Sollte ich beten und Gott danken? Ich zögere, zu deutlich ist mir der Tag in Erinnerung, an dem ich aufgehört habe zu glauben. Es war der Tag, an dem ich zusehen musste, wie die Nazis meinen Vater erhängten. Er hatte einem Jungen etwas zu essen gegeben, den die Deutschen verhungern lassen wollten, weil er einen Laib Brot gestohlen hatte. In jener Nacht auf der Brücke hätte auch ich sterben sollen. Oder später in meiner Gefängniszelle. Stattdessen lebe ich, bin an diesem schönen Ort und kann mich des Gefühls nicht erwehren, dass eine höhere Macht für mein Überleben gesorgt hat.
Nach einem letzten Blick auf die Berge ziehe ich die Vorhänge wieder zu. Ich will mich hinlegen, da fällt mir auf, dass im Bett neben mir eine junge Frau liegt. Sie müssen sie hergebracht haben, während ich schlief.
„Hallo?“, flüstere ich, aber sie reagiert nicht. Ihr Atem geht flach, und ich überlege, ob sie wohl bewusstlos ist. Ich beuge mich vor und betrachte ihr Gesicht genauer. Sie könnte etwa so alt sein wie ich, doch ihr ausgemergelter Körper erschwert es mir, sie genauer zu schätzen. Über ihren hohen Wangenknochen spannt die Haut so sehr, als würde sie jeden Moment zerreißen. Die Augen zucken unter den Lidern hin und her, die so dünn wie Pergament wirken. Ihr Haar ist so kurz geschnitten, dass kahle Stellen durchscheinen.
Ich suche den Saal ab und hoffe, Dava oder eine der anderen Krankenschwestern zu entdecken, um sie nach der jungen Frau zu fragen. Doch es ist niemand da. Wieder sehe ich die Frau an, deren Finger sich so fest in das Kissen gekrallt haben, als fürchte sie, dass es ihr jemand wegnehmen könnte. Die Decke ist ihr von den Schultern gerutscht, darunter kommt fahle Haut zum Vorschein. Ich decke sie behutsam wieder zu und bemerke aus dem Augenwinkel, dass am Fußende ein Klemmbrett auf ihrem Bett liegt. Um sie nicht zu wecken, greife ich ganz vorsichtig danach und überfliege das erste Blatt. Es ist eine Art Krankenakte, darauf stehen viele lange, mir unbekannte englische Worte. Am oberen Blattrand entdecke ich ein Wort, das ich entziffern kann: Rose.
„Rose“, lese ich laut und lege das Klemmbrett weg. Als ich die junge Frau abermals ansehe, fällt mir auf, wie ihre Lider flattern. Ich wiederhole ihren Namen, und sie öffnet langsam die Augen, um mich kurz darauf reglos anzustarren. „Hallo“, begrüße ich sie
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