Die Frau des Germanen
erfuhr und sämtliche Cherusker im Umkreis. Wie hatte sie ahnen können, dass es ein
Glück gab, das weder Licht und Sonne noch die Gesellschaft |304| vieler Menschen vertrug? Ganz heimlich hatte sie sogar darauf gehofft, dass ihrem Vater ihr neues Glück zu Ohren kommen und
ihn gnädig stimmen würde. Wenn auch viele Jahre vergangen waren und sie die Hoffnung auf Versöhnung längst aufgegeben hatte
– dieses Kind gab ihr die Kraft, wieder auf die Liebe zu vertrauen, die ihr Vater ihr entgegenbrachte. Noch immer! Auch noch,
nachdem sie ihn so schwer enttäuscht hatte! Von dieser Überzeugung wollte Thusnelda nicht abweichen.
Sie hörte zu, wie die Teutoburg erwachte. Die Hähne krähten immer wieder, als müssten sie die Langschläfer an die Arbeit holen,
Hühner flatterten auf, Schweine grunzten, Kühe blökten, und ein Vogelschwarm zog über die Burg hinweg.
Das Gesinde war schon bei der Arbeit. Am Feuer wurde mit dem Suppenkessel geklappert, der Webstuhl klackte, die Handspindel,
mit der Wolle gesponnen wurde, surrte leise. Ein Knecht schimpfte mit seiner Frau, die Wasser verschüttet hatte, der Schmied
begann mit seiner Arbeit am Amboss.
Dann, ganz plötzlich, änderte sich etwas. Die Tiere waren noch zu hören, aber alle anderen Geräusche verstummten. Der Knecht
hörte auf zu schimpfen, der Schmied legte seine Arbeit nieder, am Küchenfeuer wurde es still.
Ein Ruf ging über die Teutoburg. Eine helle Stimme war es, die etwas meldete, vermutlich die eines jungen Burschen. Thusnelda
konnte nicht verstehen, was er rief, doch der Ton war drängend, alarmierend. Sämtliche Bewohner der Burg schienen aufmerksam
geworden zu sein. Und dann mit einem Mal das Gewirr vieler Stimmen! Wietes stach daraus hervor. Thusnelda glaubte, dass sie
ihren Namen rief, aber ganz sicher war sie nicht.
Eilig erhob sie sich. Wiete hatte viele Aufgaben ihrer Mutter übernommen. Es war nicht auszuschließen, dass sie nun auch,
genau wie Thordis, darauf achtete, dass Thusnelda frühzeitig bei der Arbeit war. So, wie ihr zu Thordis’ Lebzeiten nicht nachgesehen
worden war, dass sie die halbe Nacht auf Arminius gewartet hatte, so würde ihr jetzt nicht angerechnet werden, dass sie schwanger
war.
|305| Während sie sich in ihr Wolltuch wickelte, lauschte sie nach draußen. Irgendetwas ging in der Burg vor sich. Oder außerhalb
der Burgmauern? Mit ein paar hastigen Bewegungen ordnete sie ihre Haare, dann trat sie aus der Schlafkammer in den Wohnbereich
des Hauses. Er war leer. Die Mägde, die sich um die Zubereitung des Frühstücks für die Familie und die Vorbereitung für das
Mittagessen zu kümmern hatten, waren anscheinend hinausgelaufen.
Gegen die kalte Angst, die Thusnelda frieren ließ, konnte der wollene Umhang nichts ausrichten. Dies war eine andere Angst
als die, die ihr die Freude auf den neuen Tag genommen hatte. Diese Angst war groß, schwer, erdrückend, aber weich gewesen.
Diese hier war scharf und grell, erreichte auf direktem Wege das Herz, sie tat weh.
Im Nu stand Thusnelda vor dem Haus. Der Vorplatz lag verlassen da, Stimmengewirr drang von der Burgmauer herunter. Die Männer,
die das Tor bewachten, riefen etwas zu den Wachen hoch, die auf der Burgmauer patrouillierten. Ein Angriff im Morgengrauen?
An einem Tag, an dem der Burgherr nicht anwesend war? Wer konnte das sein? Überfälle geschahen für gewöhnlich in der Nacht.
Wer also näherte sich der Burg einerseits im ersten Tageslicht, in dem er gesehen wurde, andererseits in Arminius’ Abwesenheit?
Inaja kam auf Thusnelda zugelaufen. »Herrin! Bleibt im Hause!«
Aber Thusnelda wehrte sie ab und lief zur Burgmauer. Die Mägde und Knechte, die dort standen, machten ehrerbietig Platz, als
sie Thusnelda bemerkten, und starrten sie an, als erwarteten sie von ihr die Anweisung, was zu tun sei.
Es war ein Tross von fünf Reitern, der auf die Teutoburg zukam, ihnen voran ritt ein großer, stattlicher Mann auf einem kräftigen
Schimmel. Er bestimmte das Tempo und fiel nun in den Schritt, als er bemerkte, dass er erspäht worden war. Wie schwer er bewaffnet
war, konnte Thusnelda nicht ausmachen. Aber als sie erkannte, um wen es sich handelte, spielte das |306| plötzlich keine Rolle mehr. Sie schrie auf und lief zum Eingangstor, obwohl Inaja versuchte, sie zurückzuhalten.
»Rache!«, seufzte Agrippina. »Der neue Kaiser spricht von Rache. Viel zu oft für meinen Geschmack.«
Sie blieben vor dem Käfig stehen,
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