Die Frau des Germanen
trugen kurze rote Tuniken und Ledersandalen, und jeder hatte eine Bulla um den Hals hängen. Sowohl Silvanus’
als auch Gaius’ Bulla war sehr kostbar, eine goldene herzförmige Kapsel, die ein Amulett enthielt, das böse Geister von den
Kindern fernhalten sollte. Jeder Nachkomme eines freien Römers trug so eine Bulla, für die Kinder von reichen Römern wurde
sie aus Gold gefertigt, für die armen reichte eine aus Leder. Die Jungen trugen sie bis zum Mannesalter, die Mädchen bis zur
Verheiratung. Nur die Kinder der Sklaven mussten auf eine Bulla verzichten.
Severina und Agrippina saßen am Rande der Rasenfläche und tranken Eistee. Zwei etwa zwölfjährige Jungen standen hinter ihnen
und fächelten ihnen mit einem Palmwedel Luft zu.
Severina blickte unzufrieden zur Tür, die ins Haus führte. »Habe ich Terentilla nicht schon vor einer halben Stunde gesagt,
dass sie uns Honigplätzchen bringen soll?«
»Vor ein paar Augenblicken erst«, korrigierte Agrippina sanft.
Severina wollte zornig auffahren, wurde aber von den beiden Kindern abgelenkt. Gaius beugte sich tief über den Hals seines
hölzernen Pferdes und rief: »Schnell! Schneller!« Er hatte mittlerweile den Spitznamen Caligula erhalten, was so viel hieß
wie ›Soldatenstiefelchen‹. Germanicus war es gewesen, der seinen Sohn als erster so genannt hatte. Er war davon überzeugt,
dass Caligula eine große Zukunft vor sich hatte. Ein Kämpfer, ein Eroberer, ein Sieger!
Unzufrieden betrachtete Severina ihren Sohn, der gemächlich auf seinem Schaukelpferd hin und her wackelte. An einem Wettkampf
mit seinem Cousin schien er kein Interesse zu haben. |201| »Was soll aus ihm werden, wenn er nicht besser sein will als alle anderen?«, murrte sie.
Agrippina lachte leise auf. »Er ist noch ein Kleinkind. Was erwartest du?«
»Dass er ein Sieger wird! Ein Held!«
Agrippina schüttelte den Kopf. »Silvanus ist ein gutherziges Kind, darauf kannst du stolz sein.«
»Gutherzige Menschen sind Schwächlinge«, gab Severina gereizt zurück.
»Ich glaube nicht, dass aus Silvanus ein Schwächling wird. Es scheint, dass er ein guter Mensch wird. Was ist daran auszusetzen?«
Severina antwortete nicht. Mit sorgenvoller Miene beobachtete sie ihren Sohn. Agrippina hatte gut reden. Ihre Kinder waren
allesamt Draufgänger, besonders der kleine Caligula. Um ihre späteren Erfolge musste man sich nicht sorgen. So war auch Germanicus
als Kind gewesen und sie selbst ebenfalls, obwohl von ihr als Mädchen etwas anderes erwartet worden war. Sie fragte sich schon
jetzt, welche Erziehung ihr Sohn brauchte, um zu einem richtigen Mann zu werden. Eine harte Schule würde wohl das Richtige
für ihn sein.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Agrippina, die die Gedanken ihrer Schwägerin kannte. »Silvanus fehlt es ja nicht an Mut und
Kraft. Er wird zu einem Mann werden, der fair und gerecht ist. Und das wird ihn umso mutiger und stärker machen.«
»Ist das wirklich deine Meinung?« Severina sah ihre Schwägerin zweifelnd an.
Die erwiderte den Blick nicht. »Da dir diese Eigenschaften so fremd sind, hat Silvanus sie vielleicht von seinem Vater geerbt?«
Obwohl sie beiläufig gesprochen hatte, wurde Severina prompt ärgerlich. »Willst du behaupten, ich sei nicht gerecht?«
Nun lachte Agrippina ganz offen. »Du bist schön, Severina! Da kommt es auf den Glanz deines Charakters nicht an.«
Severina stimmte in ihr Lachen ein. Endlich konnte sie ihren Sohn auch mit dem Stolz betrachten, mit dem Agrippina jedes |202| ihrer Kinder ansah. Sogar ihre älteste Tochter, die nach Severinas Ansicht schwachsinnig war. Als der kleine Silvanus zu seiner
Mutter kam und auf den Schoß genommen werden wollte, schickte sie ihn diesmal nicht zu Sosia zurück. Sie hob ihn hoch und
drückte ihn an sich, ohne darauf zu achten, dass ihre helle Seidentunika sauber blieb. Heftig sog sie den Duft von Silvanus’
Haaren ein und schloss die Augen, als sie seine weichen Ärmchen an ihrem Hals spürte.
Sie hatte nicht damit gerechnet, dieses Kind lieben zu können. Noch während der Geburt war sie sicher gewesen, es genauso
hassen zu müssen wie seinen Vater und sich auch an ihm rächen zu wollen. Aber als man ihr dann das blonde, hellhäutige Kind
in den Arm legte, war plötzlich alles ganz anders gewesen. Einen Tag vor der Niederkunft noch hatte sie gedacht: Wenn es wenigstens
nicht blond ist! Aber dann hatte es keine Rolle mehr gespielt, dass Silvanus seinem Vater
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