Die Frau des Germanen
reicht’s!« sagte Severina. »Morgen hole ich Gaviana zurück. Terentilla macht wirklich nichts als Ärger.«
Der kleine Silvanus lief zu Terentilla, sank neben ihr auf die Knie und streichelte das Gesicht der Sklavin. Mit einer letzten
Willensanstrengung öffnete sie die Augen und versuchte zu lächeln. Es gelang ihr nicht, aber der Blick, den sie Silvanus schenkte,
war voller Dankbarkeit. Die Sklavin Terentilla bekam in ihrem letzten Augenblick etwas, was sie ihr Leben lang entbehrt hatte:
ein wenig Mitleid und Zärtlichkeit.
In Germanien begann das Jahr 9 n. Chr. mit einem seltsamen Zeichen. Am ersten Tag des Jahres, kurz nach Mitternacht, gab es
ein kurzes Gewitter. Drei Blitze zuckten über den Himmel, drei Donnerschläge folgten, und dann erschien Thors Hammer am Himmel.
Thor, der mächtige Gott des Blitzes und des Donners, |205| der Herr des gefürchteten Hammers Miölnir, den er gegen seine Feinde führte, er hatte ein Zeichen gegeben.
Die Priesterin Aelda, die den Hammer am Himmel gesehen hatte, war sich seiner Bedeutung sicher: »Ein schlechtes Vorzeichen
für die Römer«, erklärte sie. »Thor wird seinen Hammer schleudern und damit die römischen Legionen vernichten.«
»Wir können es wagen«, sagte Arminius, bevor er am Abend zum Thing aufbrach. »Die Zeichen stehen gut.«
Immer zu Vollmond trafen sich die Stammesführer in ihrem heiligen Hain. Jeder kam mit einem Priester, sie alle bildeten dann
einen großen Kreis auf dem Versammlungsplatz. Einer nach dem anderen rammte einen Haselnusspfahl in den Boden. Sie wurden
mit Seilen verbunden, die aus den Schweifen von geweihten Rössern geflochten worden waren. In der Mitte der Versammlung stieß
dann der höchste Cherusker, das war Arminius, einen Pfahl aus Eichenholz in den Boden. Der war dem Gott Tiwaz gewidmet, der
die Rechtsprechung schützte. Erst wenn alle versammelt waren, wurde das Thing eröffnet, und jeder brachte vor, worüber beraten
werden sollte.
Auf den Thing-Versammlungen wurde über Krieg und Frieden abgestimmt und vor allem Recht gesprochen. Wer eines schweren Vergehens
für schuldig befunden wurde, musste mit einer harten Strafe rechnen. So konnte aus einem freien Mann ein unfreier werden,
oder er musste mit seinem Hab und Gut für sein Vergehen bezahlen. Beim letzten Thing war über das Leben einer Frau beschlossen
worden, die des Ehebruchs überführt worden war, und über das eines Mannes, der seinen Nachbarn heimtückisch ermordet hatte,
um an dessen Besitz zu kommen. Beide Übeltäter waren zum Tode verurteilt worden und wurden am Tag darauf im Moor versenkt.
Friedensbruch und Frevel gegen die Götter wurden ebenfalls ähnlich hart bestraft.
Oft wurden auf einem Thing aber auch Beschlüsse gefasst, die Thusnelda freuten, wenn Arminius ihr später davon erzählte. Unfreie
beispielsweise, die sich in der Gemeinschaft bewährt |206| hatten, wurden zu freien Germanen gemacht und damit in die Gesellschaft eingegliedert.
Erst seit Thusnelda verheiratet war, wusste sie etwas über die Thing-Versammlungen. Ihr Vater hatte nie ein Wort über das
verloren, was dort geschah. Sie war immer voller Angst gewesen, wenn er zum Thing aufbrach, weil er stets schwer bewaffnet
loszog. Heute wusste sie, dass zwar alle Stammesfürsten mit ihren Waffen kamen, dass aber bei einem Thing strenge Waffenruhe
galt. Die Schwerter und Säbel hatten eine andere Bewandtnis: Fand ein Antrag, der vorgebracht worden war, die Zustimmung aller
Versammelten, dann wurden die Waffen zusammengeschlagen, der Antrag galt damit als angenommen. Sämtliche Beschlüsse waren
anschließend in die Tat umzusetzen.
Dass in letzter Zeit römische Richter das Recht in Anspruch nahmen, über germanische Sippen- und Stammesstreitigkeiten zu
richten, war ein großes Ärgernis. Obwohl seit Menschengedenken sämtliche Urteile im heiligen Hain gefällt worden waren, sollten
die Thing-Versammlungen überflüssig werden. Zum Glück war das den römischen Besatzern bisher nicht gelungen, jedenfalls nicht
ganz. Mit Gewalt wollten sie anscheinend nicht gegen das Thing vorgehen, denn das Zerstören des heiligen Hains galt als schwerer
Frevel. Es war die größte Beleidigung, die man einem Germanen zufügen konnte. Davor schreckten die Römer zurück. Trotzdem
kam es immer häufiger vor, dass diejenigen, die sich im Recht glaubten, ihre Klagen vor einen römischen Richter brachten.
Und das, obwohl die Prozesskosten gewaltig
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