Die Frau des Praesidenten - Roman
weiß, meine Großmutter war ein wundervoller Mensch.
Auch dieser Teil der Beerdigung schien mir viel weniger mit meiner Großmutter als Person zu tun zu haben als mit den üblichen Vorstellungen von Anstand und Sitte, sogar so sehr, dass ich das Gefühl hatte, meine Großmutter zu verraten, wenn ich mich selbst so plaudern hörte. Aber was war die Alternative? Hätte ich es überhaupt ertragen, mich in der Gegenwart von allen anderen lebhaft und ehrlich an sie zu erinnern?
Sie fand Riley ziemlich öde. Sie spielte hervorragend Bridge. Sie machte nie einen Finger krumm, um zu kochen oder zu putzen, selbst als sie noch jünger und agiler war und es leicht gekonnt hätte, und sie rauchte ständig, auch in Gegenwart ihrer
Enkelin. Sie mochte
Anna Karenina,
weil ihr die Charaktere gefielen, aber
Krieg und Frieden
langweilte sie, weil es so politisch war, und sie war noch mit neunzig modisch auf dem neuesten Stand, und der heutige Trend, den ganzen Tag über Sportbekleidung zu tragen, brachte sie zur Verzweiflung; außerdem fand sie, dass die Kleider von Laura Ashley so aussahen, als seien sie für Bäuerinnen entworfen worden. Sie hatte jahrelang eine Liebesbeziehung zu einer anderen Frau, worüber bei uns nicht gesprochen wurde, und dann trennten sie sich, und auch darüber wurde geschwiegen.
In gewisser Weise ging das wahre Wesen meiner Großmutter keinen der Trauergäste etwas an, genauso wie es bei allen anderen nur sehr wenige Familienmitglieder und enge Freunde etwas anging. Außerdem, so sagte ich mir, konnten oberflächliche Bemerkungen die Toten ebenso wenig beleidigen, wie der Abschiedsschmerz sie zurückbringen konnte.
Mrs. Janaszewski nahm meine Hand und hielt sie fest. Ihre Haut war überraschend kühl für einen warmen Nachmittag im Mai. »Das mit Dena und dir bricht mir einfach das Herz«, sagte sie. »Sie wohnt inzwischen wieder hier, weißt du.«
»Betreibt sie das D’s gar nicht mehr?«
»Textilien sind ein schwieriges Geschäft, Alice. Die Kundschaft ist so flatterhaft, und in Madison kommt noch der ganze Durchsatz wegen der Studenten dazu.«
Das überraschte mich, denn D’s war immer brechend voll gewesen, wenn ich dort vorbeigeschaut hatte. Dann fiel mir ein, dass mein letzter Besuch in dem Laden über ein Jahrzehnt her war – auch wenn ich dann und wann nach Madison fuhr, um mit meiner alten Freundin Rita Alwin zu Mittag zu essen oder eine Ausstellung im Elvehjem Museum anzusehen, vermied ich es, auf die State Street zu gehen, weil es mich nur deprimiert hätte.
»Dena arbeitet jetzt als Kellnerin im Steakhaus des neuen Einkaufszentrums, aber die eigentliche Neuigkeit ist, dass sie einen festen Freund hat«, sagte Mrs. Janaszewski. »Du kennst ihn wahrscheinlich, Pete Imhof.« Ich musste erschrocken ausgesehen haben, denn Mrs. Janaszewski schlug sich die Hand vor den Mund. »Oh, Alice, er ist der Bruder von … Ich hatte ganz vergessen, dass … verzeih mir.«
»Nein, schon gut, das ist ja schon so lange her«, sagte ich. Ich hätte Andrew gegenüber dasselbe schlechte Gewissen haben können wie meiner Großmutter gegenüber –
Ich verdränge meine Trauer aus Höflichkeit; dieser Smalltalk ist wichtiger als unsere Geschichte, als die Erinnerung an dich
–, aber was ich gerade von Mrs. Janaszewski erfahren hatte, wühlte mich viel zu sehr auf. Dena hatte eine Beziehung mit
Pete
? Aber Pete war abstoßend! Dena war witzig, hübsch und ehrgeizig und Pete ein hinterhältiger Nichtsnutz, ein Versager. Ich fragte mich sogar, ob sie ihn finanziell versorgte. Wie hatten sie zueinander gefunden? War es möglich, dass er sich verändert hatte, seit er meine Mutter betrogen hatte? Ich hoffte es für Dena. Und dann fiel mir ein: Wenn Dena und Pete ein Paar waren, musste sie ihm doch von meinem Schwangerschaftsabbruch erzählt haben. Mein Gott, und wenn er nach all den Jahren erfuhr, dass ich schwanger gewesen war, wäre er dann wütend auf mich? Angewidert, enttäuscht oder einfach nur erleichtert, dass ich die Sache erledigt hatte? Ich fragte Mrs. Janaszewski: »Wie lange sind die beiden denn schon zusammen?«
»Oh, fast ein Jahr. Sie sagt immer zu mir: ›Ma, hör auf, mich zu fragen, wann wir heiraten. Wenn es was zu erzählen gibt, werden wir es dir schon sagen.‹«
Wenn Pete also vorgehabt hätte, mich ausfindig zu machen und zur Rede zu stellen, hätte er es dann nicht schon längst getan? Vielleicht hatte Dena ihm nichts gesagt, konnte es vielleicht sogar sein, dass sie es selbst
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