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Die Frau des Praesidenten - Roman

Die Frau des Praesidenten - Roman

Titel: Die Frau des Praesidenten - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elisabeth Curtis Sittenfeld
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ausgeprägt war: Natürlich gab es für Charlie einen Gott; natürlich musste man zu Ihm beten, besonders an Weihnachten und Ostern und in unruhigen Zeiten; und nein, es war nichts dagegen einzuwenden, Ihm auch unsere kleinsten Sorgen und Wünsche anzuvertrauen (dazu war Er schließlich da – wie der Concierge eines noblen Hotels). In den letzten Jahren war es Charlie weniger wichtig geworden, jeden Sonntag unsere Kirche zu besuchen, und manchmal gingen Ella und ich allein.
    Als ich meine Passage gelesen hatte und mich umblickte, entdeckte ich Harold Blackwell in der zweithintersten der gefüllten Reihen. Das war der Moment, in dem mir zum ersten Mal Tränen in die Augen stiegen. Nicht einmal Jadey war gekommen – ich hatte ihr versichert, dass das nicht nötig sei, und sie hatte erleichtert gewirkt. Harold musste extra für das Begräbnis angereist sein, und auch wenn meine Großmutter gegen seine politischen Überzeugungen Vorbehalte gehabt hatte, war ich tief bewegt. Ich ging zu meinem Platz in der vordersten Bank zurück, an meiner Mutter und Lars vorbei, und setzte mich wieder zwischen Ella und Charlie, der meine Hand nahm und sagte: »Gut gemacht.«
    Nach der Predigt hielt Pastor Kluting eine Grabrede, die nach meinem Empfinden wenig zu meiner Großmutter passte: Unter anderem bezeichnete er sie als einen tragenden Pfeilerder Gemeinschaft in Riley. Als letztes Lied sangen wir nach dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, dem Vaterunser und der Kommendatio »Hoch rühmt das Kreuz«. Wieder spürte ich einen Kloß im Hals. Das Lied erinnerte mich zwar nicht an meine Großmutter, aber es war ein Stück, das ich schon als Kind gesungen hatte, und als die Orgel einsetzte, füllte sich die Kirche, zumindest teilweise, mit den Stimmen von Menschen, die meine Familie kannten, und eine überwältigende Trauer stieg in mir hoch. Wie anders wäre mein Leben verlaufen, wenn ich nicht mit meiner Großmutter in einem Haus aufgewachsen wäre, wie beengt und farblos! Ihr war es zu verdanken, dass ich Bücher las, und das Lesen hatte mich vor allem anderen zu dem gemacht, was ich war. Es hatte meine Neugier und mein Mitgefühl geweckt, hatte mir die Augen dafür geöffnet, wie unbegreiflich, unbeständig und widersprüchlich die Welt war, und mich gelehrt, die Unbegreiflichkeiten, die Sprunghaftigkeit und die Widersprüche der Welt nicht zu fürchten. Und hätte ich Charlie geheiratet, wenn meine Großmutter nicht gewesen wäre? Ganz sicher nicht, und zwar weniger wegen ihrer hohen Meinung von ihm nach ihrer ersten Begegnung als wegen der Charakterzüge, die ihnen beiden gemeinsam waren, die ich an ihm schätzte, weil ich sie an ihr geschätzt hatte: Schalkhaftigkeit, Humor und Respektlosigkeit und eine hellwache Intelligenz, die eher spürbar als offensichtlich war. Jetzt stand er neben mir; ich sah aus dem Augenwinkel seinen grauen Anzug, und ich dachte: Hatte meine Großmutter nicht in allem anderen recht behalten? Hatte sie nicht, ob es um Kleidung ging, um meine Ausbildung oder die ungewollte Schwangerschaft, die zu beenden sie mir geholfen hatte, immer für mich gesorgt, und worin hatte sie sich je geirrt? Und musste sie dann nicht auch recht behalten, was Charlie anging?
    Ihr Sarg stand auf Rollen, und die Sargträger waren Angestellte des Beerdigungsinstituts. Während der letzten Strophe gingen sie als Erste den Gang hinunter, dann der Pastor und dann die Familienmitglieder. Ich sah, dass meine Mutter den Trauergästen ein Dauerlächeln entgegenhielt, während ihr zugleich die Tränen hinunterliefen. Auf dem Weg zum Friedhof,im Auto, beugte sich Ella zu mir vor; Charlie fuhr, und ich saß auf dem Beifahrersitz. Ich wandte mich ihr zu, und sie sagte sehr ernst, als hätte sie lange über dieses Thema nachgedacht: »Ich glaube, Granny hätte mein Kleid gefallen.«
     
    Später, beim Empfang in unserem Haus in der Amity Lane, hatte ich gerade eine Schüssel mit Salat auf den Tisch im Esszimmer gestellt, als Charlie neben mir auftauchte. »Was meinst du«, fragte er, »willst du noch ein bisschen bleiben, oder sollten wir uns auf den Weg machen?« Er kaute noch auf irgendetwas, vielleicht auf den Kartoffelchips mit einem Dip aus Speck und Käse, die ich nur von Beerdigungen kannte, schluckte den Rest hinunter und wischte sich die Hände an einer Serviette ab.
    »Hast du es eilig?«, fragte ich zurück.
    »Ich möchte dich nicht hetzen, wenn du also noch zu tun hast, könnten Ella und ich vielleicht mit Dad zurückfahren,

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