Die Frau des Seiltaenzers
Blick hatte etwas Flehentliches, als müsse er um ihr Vertrauen betteln. Dabei hatte sie erwartet, er würde aufbrausen und voller Entrüstung ausrufen: »Wenn du mir nicht vertraust, dann geh allein deinen Weg! Du bist mir ohnehin nur ein Klotz am Bein.« Aber nichts dergleichen geschah. Wendelin schwieg beharrlich, und nach einer Weile ließ er enttäuscht den Kopf sinken.
Magdalena zog ihre Hand zurück und beendete das unsichere Schweigen: »In der Nacht, bevor Doktor Faust aus dem Kloster verschwand, kam es zu einer unerwarteten Begegnung. Ich suchte die Bibliothek auf, um in Erfahrung zu bringen, mit welchen Büchern sich der Schwarzkünstler am vergangenen Tag beschäftigt hatte. Aus meiner Beobachtung wusste ich, dass Faust die gebrauchten Bücher auf einem Stapel liegen ließ, bevor du sie am nächsten Morgen wieder an den rechten Ort zurückgestellt hast.«
»Das stimmt«, bemerkte Schweinehirt, »so wird es in allen Bibliotheken gehandhabt.«
»Als ich jedoch die Bibliothek betrat«, fuhr Magdalena fort, »fand ich den Doktor, Kopf und Oberkörper auf dem Lesepult liegend, als wäre er tot. Vor ihm flackerte eine Kerze. Unter seinem Kopf lag ein aufgeschlagener Atlas ›Der Flusslauf des Mayns‹ mit einer Karte. Faust war beim Kartenstudium eingeschlafen. Wie es schien, hatte er den Flusslauf endlos lange studiert. Das machte mich natürlich neugierig, und ich versuchte, den Atlas unter seinem Kopf wegzuziehen.«
»Erzähl weiter«, rief Wendelin aufgeregt.
Magdalena genoss die Neugierde, die sie bei ihrem Gegenüber auslöste, und fuhr flüsternd und betont langsam fort: »Da ich nicht wusste, ob mir das gelingen würde, ohne den schlafenden Schwarzkünstler aufzuwecken, betrachtete ich lange die Karte, mit der Faustsich offenkundig beschäftigt hatte. Dabei machte ich eine Entdeckung, die mir den Atem raubte und mich ratlos zurückließ. Mir hätte klar sein müssen, dass Doktor Faust bei meinem Versuch, den Atlas unter seinem Kopf wegzuziehen, erwachen würde. Keinesfalls konnte ich ahnen, wie dies geschah: Der vermeintlich schlafende Schwarzkünstler ergriff blitzschnell mein Handgelenk und umklammerte es mit der Kraft einer Löwenpranke. Ich wollte schreien, aber vor Angst versagte mir die Stimme. Ohne mir ins Gesicht zu blicken, stieß er meinen Arm von sich wie ein giftiges Reptil und floh aus der Bibliothek.«
»Und du glaubst, Doktor Faust hat dich dabei nicht erkannt?«
»Er sah mich überhaupt nicht an! Ich hatte den Eindruck, der Schwarzkünstler hatte mehr Angst, ich könnte ihn erkennen. Er wird seine Gründe gehabt haben.«
Inzwischen war es dunkel geworden, und von Norden her näherte sich das tanzende Licht einer Laterne. Der Weinkutscher kehrte zurück, die Wagenlaterne in der Hand schwenkend. Wie schon den ganzen Tag über gab er sich wortfaul. Von seinen Fahrgästen nahm er kaum Notiz und schenkte ihnen nur ein beseeltes Lächeln. Mit einem Satz sprang er auf seinen Kutschbock, wickelte die Zügel um die dafür vorgesehenen Haken, zog sein Wams aus und rollte es zu einer Art Kissen zusammen. Dann legte er sich auf dem Kutschbock schlafen. Es dauerte nicht lange, und sein schnarrendes Schnarchen tönte im Wettstreit mit dem Quaken der Flusskröten.
»Du sagtest, du hättest auf der Landkarte, über der Doktor Faust eingeschlafen war, etwas Aufregendes entdeckt«, begann Wendelin von Neuem, »etwas, wofür du bis heute keine Erklärung gefunden hast.«
Als wollte sie die Erinnerung aus ihrem Gedächtnis wischen, fuhr sich Magdalena mit beiden Händen übers Gesicht. Dann antwortete sie: »Ich sah zum ersten Mal eine Karte vom Main-Fluss, der wie kein anderes fließendes Gewässer erst ein Dreieck, dann ein Viereck beschreibt, bevor er in den Rhein-Fluss mündet.Zudem wird der Main-Fluss an seinem Oberlauf im Umkreis weniger Meilen von einer Reihe von Zuflüssen gespeist, von denen Regnitz und Baunach auf der Karte wie eine mehrschwänzige Schlange erscheinen.«
»Nun gut«, bemerkte Wendelin, »das ist gewiss einzigartig unter den Flussläufen; doch ich sehe darin keinen Grund zur Beunruhigung.«
Magdalena überging die Bemerkung. »Würdest du nicht auch im Flusslauf des Mains – ohne die Städte an seinen Ufern, ohne die Straßen entlang seiner Auen und ohne die Hügel und Wälder zu beiden Seiten – eine mehrschwänzige Schlange erkennen?«
Wendelin war verblüfft. Doch noch immer konnte er sich keinen Reim darauf machen, was Magdalena in solche Aufregung
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