Die Frau des Seiltaenzers
mit Namen.«
Fassungslos, die wirren Haare aus dem Gesicht streifend, sah Schweinehirt Magdalena an.
Die fuhr fort: »Das Weib hatte zuvor versucht, mich zu töten. Als das misslang, nahm sie sich den Seiltänzer vor. Später gestand sie mir, wenn sie Rudolfo nicht haben könne, solle ihn niemand haben. Sie steckte das Seil in Brand, auf dem der Große Rudolfo zum Domturm balancierte.«
»Ihr trauert noch immer um den Seiltänzer, stimmt’s?«
Magdalena wiegte den Kopf hin und her und antwortete: »Ehrlich gesagt – am Anfang war die Trauer größer. Ich war so verwirrt, dass ich den Entschluss fasste, am Tag nach Rudolfos Tod selbst auf das Seil zu steigen, obwohl ich bis zu diesem Tag nicht einen Schritt auf einem aufgespannten Hanfseil getan hatte.«
»Aber Ihr seid noch am Leben, Jungfer«, ereiferte sich Schweinehirt.
Magdalena lachte. »Ich bediente mich der letzten Tropfen eines Elixiers, das der Große Rudolfo in Gebrauch hatte, einer geheimnisvollen Flüssigkeit, welche die Gesetze der Natur aufhebt und von der fünf Tropfen genügen, sich wie ein Vogel auf schwankendem Ast zu fühlen.«
»Und Ihr habt wirklich den Turm bestiegen, ohne vom Seil zu fallen?«
»Habt Ihr schon einen Vogel gesehen, der vom Ast fällt, es sei denn, er wurde vom Pfeil oder der Kugel eines Jägers getroffen? Ist Eure Frage damit beantwortet?«
Schweinehirt nickte ungläubig. »Und worum handelte es sich bei dem Elixier? Ich meine, kennt Ihr seine Zusammensetzung?«
»Leider nein«, erwiderte Magdalena und sah den Wellen nach, die in der einsetzenden Dämmerung matt blinkend an ihr vorüberzogen. »Aber ich darf wohl annehmen, dass die Rezeptur in einem der neun ›Bücher der Weisheit‹ verzeichnet ist.«
»Aber Ihr wisst es nicht mit letzter Sicherheit!«
Aufbrausend rief Magdalena: »Was weiß der Mensch schon mit letzter Sicherheit, außer dass er irgendwann sterben muss? Tatsache ist, Rudolfo hat mir gestanden, er bediene sich des Elixiers. Und gesprächsweise eröffnete er mir, dieses und andere Wundermittel seien in den ›Büchern der Weisheit‹ aufgeschrieben. Dabei handle es sich keineswegs um Wundermittel, sondern um Erkenntnisse der Wissenschaft, deren Anwendung geeignet sei, das Weltgefüge durcheinanderzubringen.«
»Diese Vorstellung ist wirklich faszinierend«, sagte Wendelin leise vor sich hin. Er tauchte die Hand ins Wasser und wischte sich über die Augen. »Wenn sich die Träume unserer Märchenwelt erfüllten, wenn wir uns unsichtbar machen könnten, wenn wir hundert oder gar tausend Jahre schliefen und in einer anderen Zeit aufwachten, wenn unser Wagen nicht von Pferden, sondern von einem Kobold gezogen würde, welcher statt Hafer und Heu ein einfaches Elixier zur Nahrung benötigt, wenn wir wie Moses im Alten Testament das Meer teilen oder wie der Herr Jesus im Neuen Testament gen Himmel fliegen könnten, wenn es möglich wäre, unsere Worte in Flaschen zu füllen wie köstlichen Wein, wenn wir die Choräle von Heinrich Isaac auf einen Teller legen könnten und wann immer wir wollten, sie wieder zum Klingen brächten, dann …«
»Was dann?«, unterbrach ihn Magdalena, »was wäre dann?«
Wendelin hob die Schultern. »Dann bräuchten weder Ihr noch ich uns um unsere Zukunft Sorgen zu machen.«
»Ihr denkt wohl auch nur ans Geld!«
»Nicht nur ans Geld, Jungfer Magdalena, wenngleich es bei meinen Überlegungen keine geringe Rolle spielt. Aber habt Ihr Euch schon einmal überlegt, dass Eure Flucht vor der Inquisition von den Dominikanern als Schuldeingeständnis gewertet wird. Das bedeutet, für den Rest Eurer Tage müsst Ihr ein Leben im Untergrund führen, niemand darf erfahren, dass Ihr jene Jungfer Magdalena seid, die von der Heiligen Inquisition zu einem Gottesurteil gezwungen wurde und sich dem Schuldspruch durch Flucht entzogen hat.«
Im Gras kauernd, legte Magdalena Arme und Kopf auf die angezogenen Knie. In der Hektik der letzten Stunden hatte sie sich darüber überhaupt keine Gedanken gemacht. Zweifellos hatte Wendelin recht. Die Flucht aus dem Kloster Eberbach bewahrte sie zwar fürs Erste vor dem Schlimmsten, aber die Dominikaner würden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie aufzuspüren.
»Es steht mir nicht zu, Euch Ratschläge zu erteilen«, unterbrach Schweinehirt das lange Schweigen, »aber es gibt nur eine Möglichkeit, Euch aus der verfahrenen Situation zu befreien.«
Magdalena blickte auf: »Und die wäre?«
»Ihr sagtet doch, Ihr wäret nach Einnahme der
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