Die Frau des Seiltaenzers
versetzte.
»Und wenn ich dir nun sage«, fuhr sie fort, »dass der Große Rudolfo eben diese mehrschwänzige Schlange, ein Dreieck und ein Viereck beschreibend, auf seinen Rumpf tätowiert hatte, würde das meine Aufregung rechtfertigen?«
»Ein tätowierte Schlange?«, wiederholte Wendelin verblüfft.
»Oder der Flusslauf des Mains.«
»Und was schließt du daraus?«
»Nun ja, ein Unwissender sah in der Tätowierung eine Schlange. Ein Eingeweihter erkannte darin jedoch den Flusslauf des Mains. Rudolfo erwähnte einmal, der wahre Geheimnisträger der Neun Unsichtbaren trüge den Standort der ›Bücher der Weisheit‹ in seinem Gedächtnis. Aber für den Fall, dass ihn sein Gedächtnis verließe, trüge er sein Geheimnis auf der Haut.«
Es dauerte geraume Zeit, bis Wendelin Schweinehirt die volle Tragweite von Magdalenas Erklärung begriff. Kopfschüttelnd murmelte er: »Von seinen Quellen bis zur Mündung ist der Main-Fluss mehr als 300 Meilen lang. Nicht gerade eine präzise Angabe für das Versteck der Bücher.«
Magdalena entgegnete beleidigt: »Glaubst du wirklich, die NeunUnsichtbaren würden sich den Standort der Bücher, welche die größten Geheimnisse der Menschheit bewahren, so einfach auf die Haut schreiben?«
»Natürlich nicht«, gab Schweinehirt klein bei.
»Im Übrigen«, bemerkte Magdalena, »war unter der Schlange noch ein rätselhaftes Wort in Rudolfos Haut gestochen: HIC IAC COD. Sagt dir das etwas?«
Wendelin schüttelte den Kopf. »HIC IAC COD – klingt wie ein Begriff aus der Kabbala, der jüdischen Geheimlehre. Keine andere Sprache kennt so viele Endungen mit -od oder -ot wie die Sprache der Juden. Im Übrigen bezeichnen sich die Kabbalisten, also die Anhänger dieser mystisch-theosophischen Lehre, als ›Kenner der geheimen Weisheit‹ oder als ›Meister des Geheimnisses‹. Hat der Seiltänzer jemals eine Bemerkung gemacht, dass er dem mosaischen Glauben anhing?«
»Nein, nie! Der Große Rudolfo glaubte an nichts, nur an sich selbst. Und, ehrlich gesagt, finde ich das mittlerweile ganz vernünftig.«
Längst war Mitternacht vorüber, als Magdalena und Wendelin zum Wagen zurückkehrten und sich zwischen den Rädern zum Schlafen ins Gras legten.
In der Morgendämmerung wurde Magdalena von Richwins wohligem Grunzen geweckt. Der Weinkutscher stand nackt und bis zum Bauchnabel im Fluss und tauchte in kurzen Abständen unter, um wenig später schnaubend und prustend wie ein Walross wieder aufzutauchen.
Richwin kam der Morgenwäsche mit solcher Hingabe nach, dass Magdalena Lust verspürte, es ihm gleichzutun. An Schlaf war ohnehin nicht mehr zu denken, und so legte sie ihr Kleid ab und wollte es über den Kutschbock hängen, da fiel ihr Blick auf Schweinehirts mit derbem Leder überzogene Reisetruhe, deren Deckel offen stand. Wie vom Teufel geritten, begann sie in Wendelins Habseligkeiten herumzuwühlen, zuerst eher zaghaft, dann immer hektischer, alsfolgte sie einer dunklen Ahnung. Und plötzlich stieß sie auf ein rotes Etwas, einen scheinbar harmlosen Gegenstand, der für Magdalena jedoch von unerhörter Bedeutung war: ein einzelner purpurroter Handschuh.
»Das ist nicht wahr!«, stammelte Magdalena leise.
18. KAPITEL
N ach Rudolfos Beisetzung ging das Leben in Mainz seinen gewohnten Lauf. Die Gaukler zerstreuten sich in alle Winde. Ohne den Großen Rudolfo sahen sie keine gemeinsame Zukunft, und so teilten sie das Erbe untereinander auf. Ein jeder erhielt einen Wagen samt Pferdegespann und den nötigen Hausrat zum Überleben. Der Rest wurde gegen klingende Münze veräußert. Nur Constantin Forchenborn, der Marktschreier, nie um eine Idee verlegen, scharte zwei Mitglieder der alten Truppe um sich, Megistos, den Quacksalber, und Jadwiga, die polnische Schlangenfrau, denn er trug sich mit dem Gedanken, eine neue Gauklertruppe zu gründen.
Beschleunigt wurde der Aufbruch durch ein großes Fischsterben im Main. Scheffelweise wurden die stattlichsten Fische am Ufer angeschwemmt, und die Ärmsten der Armen, von denen es in Mainz nicht wenige gab, balgten sich um die Beute. Als jedoch Quirin, der Flickschuster, gesegnet mit neun unmündigen Kindern, nach dem Genuss eines verendeten Flussaals von heute auf morgen aus dem Leben schied, machte das Gerücht die Runde, die Gaukler hätten das Mainwasser vergiftet. Das entbehrte zwar jeder Grundlage, aber nichts ist so glaubhaft wie ein Gerücht.
Über Nacht hatte auch Matthäus Schwarz, der Schuldeneintreiber des Reichsgrafen Jakob
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