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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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die sich dafür interessieren. Vor ein paar Wochen stand plötzlich ein gut gekleideter Mann in meiner Werkstatt und fragte nach denselben Fragmenten. Er versprach mir zwei Gulden dafür, dass ich Sie ihm überließe …«
    Aus dem oberen Stockwerk schallte Magdalenas Stimme, Schweinehirt solle zum Apotheker laufen und Bilsenkraut besorgen, so schnell er nur könne.
    Wendelin eilte sofort von dannen, gefolgt vom jungen Riemenschneider.
    »Magdalena kennt viele Wundermittel«, rief Schweinehirt im Laufen, »sie ist sehr belesen und hat die Werke der Hildegard von Bingen über die Heilpflanzen und ihre Wirkung studiert. Sie weiß mehr als mancher Medicus.«
    Schnaufend und in der Hoffnung, Riemenschneider könnte mit Hilfe eines Wundermittels ins Leben zurückgeholt werden, keuchte Jörg: »Ich will Euch die Wahrheit sagen: Die Bruchsteine habe ich dem vornehmen Herrn zwei Tage später für fünf Gulden verkauft. Schnell verdientes Geld für ein paar Steinbrocken, die kaum für etwas nützlich sind.«
    Wendelin Schweinehirt hielt inne und rang nach Luft. »… schnell verdientes Geld!«
    Der junge Riemenschneider packte Wendelin am Ärmel. »Kommt, ich flehe Euch an, das Leben meines Vaters steht auf dem Spiel. Kommt, es soll Euer Schaden nicht sein!«
    Beim Apotheker erstanden sie das gewünschte Bilsenkraut. Im Laufschritt begaben sie sich zurück zum Haus des Bildhauers. Magdalena wartete bereits mit einem Tiegel kochenden Wassers. Darin schwammen allerlei Ingredienzien, welche dem Wasser eine rötlich braune Farbe verliehen.
    Geschickt zerrieb sie das getrocknete Bilsenkraut zwischen denHandflächen, rührte mit einem Kochlöffel in dem dampfenden, pestilenzialischen Gestank verbreitenden Gebräu und verschwand damit nach oben.
    Schweigend standen sich Jörg und Wendelin gegenüber und sahen sich an. Schließlich ergriff der junge Riemenschneider das Wort: »Was die Inschrift auf den Bruchsteinen betrifft«, begann er bedächtig, »wurde ich natürlich hellhörig, als mir der Fremde zwei Gulden bot. Skeptisch wurde ich, als er sogar bereit war, die von mir geforderten fünf Gulden zu bezahlen. Deshalb setzte ich noch am selben Tag die einzelnen Bruchstücke zusammen. Das war keine leichte Aufgabe, denn mein Vater hatte ganze Arbeit geleistet.«
    »Wusste er von Eurem Handel?«
    Jörg Riemenschneider schüttelte den Kopf. »Er sollte es auch nie erfahren.«
    »Und die Umschrift auf dem Stein? Konntet Ihr sie lesen?«
    »Lesen schon«, erwiderte Jörg bedächtig, »aber verstanden habe ich die geheimnisvolle Aneinanderreihung von Buchstaben nicht.«
    »Ist sie Euch denn wenigstens in Erinnerung geblieben?«
    »Kein Mensch kann sich so einen Unsinn merken. Das heißt, ob es Unsinn war, was man auf dem Schriftband lesen konnte, weiß ich bis heute nicht. Aber Jörg Riemenschneider mag zwar von bescheidener Bildung sein und gerade einmal lesen können, was ihm sein kluger Vater beigebracht hat – doch dumm ist er nicht!«
    Als er Schweinehirts fragenden Blick bemerkte, fuhr er fort: »Folgt mir, ich will Euch etwas zeigen.«
    Durch eine Hintertür verließen sie das Haus, überquerten einen Hinterhof, in dem Marmor, Kalksteine, Sandstein und Stammholz gelagert waren, und betraten die Werkstatt, in der sein Vater einst die prächtigsten Kunstwerke gemeißelt hatte.
    Überall standen und lagen unvollendete Artefakte, Säulenstümpfe und aus Stein gemeißelte Ornamente herum. Die weiß gekalkten Wände waren übersät mit Werkzeugen, Papier- und Pergamentfetzen voller Skizzen und Maßangaben und mit mancherlei Zeichnungen.
    In Kniehöhe, anscheinend unbeachtet, verlief ein Schriftband von Minuskeln, von flüchtiger Hand mit dem Rötel hingeschrieben.
    »Da«, sagte Jörg mit einer heftigen Kopfbewegung zu der Schriftzeile. »Das ist die Umschrift von Trithemius’ Epitaph!«
    Sprachlos starrte Schweinehirt auf die halb verwitterten Buchstaben: I.aet.ta.li.Johannis.Trithemii.s.loc.dom.Cae.Hen.
    Derlei Abkürzungen auf Epitaphien waren keine Besonderheit. Sie dienten vor allem dazu, möglichst viel Text unterzubringen. Aber was bewog Albrecht von Brandenburg dazu, den Wortlaut der Zeile auszulöschen?
    In Gedanken versunken, vernahm Schweinehirt plötzlich von der anderen Seite des Hofes furchtbare Geräusche, ein Würgen, Speien und Prusten, als kehrte sich das Innere eines Menschen nach außen.
    »Er lebt!«, rief Jörg Riemenschneider und stürzte wie von Sinnen aus der Werkstatt. Schweinehirt blieb verunsichert

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