Die Frau des Seiltaenzers
Schriftgelehrter könnte damit vielleicht etwas anfangen.«
»Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr die Bruchstücke aufbewahrt habt? Das alles ist doch beinahe zehn Jahre her!«
Der alte Riemenschneider verzog sein Gesicht, als dächte er besonders angestrengt nach. »Wenn ich mich recht erinnere, lagern die Steinbrocken noch in meiner Werkstatt auf einem Haufen mit anderen Bruchstücken, wie sie bei jedem Steinmetz anfallen.«
Es war spät geworden, und Magdalena, nicht gewöhnt, dem Wein so heftig zuzusprechen, zeigte deutliche Ermüdungserscheinungen. Doch die Hoffnung, die vernichtet geglaubte Inschrift könne dochnoch von Nutzen sein, trieb sie an, dem Bildhauer das Versprechen abzuringen, ihr bei der Suche nach den Fragmenten behilflich zu sein.
Früh am nächsten Morgen – vom Mainfluss zogen die ersten Nebel herauf und kündigten den Herbst an – klopfte Magdalena bei Bruder Lucius an die Klosterpforte und bat den blinden Mönch, er möge Wendelin Schweinehirt von ihrer Anwesenheit unterrichten, sie müsse ihn dringend sprechen.
In kurzen Worten berichtete sie Wendelin von der verschollenen Inschrift auf dem Epitaph des Abtes Trithemius und stieß damit auf größtes Interesse. Denn, meinte Schweinehirt, wenn die Inschrift Albrecht von Brandenburg so in Unruhe versetzt habe, dass er sie zerschlagen ließ, komme ihr zweifellos hohe Bedeutung zu. Möglicherweise habe sie ihm bei der Suche nach den ›Büchern der Weisheit‹ sogar einen bedeutenden Wissensvorsprung verschafft. Auf jeden Fall sollten sie den Versuch machen, die steinernen Fragmente aufzuspüren und zusammenzusetzen.
Gemeinsam begaben sie sich zum Haus Tilman Riemenschneiders in der Franziskanergasse.
Jörg, der Sohn des Bildhauers, öffnete mit starrem Blick. »Ihr wagt es noch, dieses Haus zu betreten?«, fauchte er die frühen Besucher an und wollte die Türe zuschlagen. Da stellte Schweinehirt seinen Fuß in die Türe, und Magdalena fragte irritiert. »Was ist geschehen? Ich bin mir keiner Schuld bewusst!«
»Mein Vater Tilman Riemenschneider liegt im Sterben. Der Medicus ist bei ihm. Er sagt, man habe ihn vergiftet. Er wurde mit Euch im Gasthaus ›Zum Schwanen‹ gesehen. Warum habt Ihr das getan?«
Auf Magdalenas Stirn bildete sich eine Zornesfalte. »Ihr glaubt doch nicht etwa, ich …« Ihre Stimme überschlug sich.
»Wer sonst hätte die Möglichkeit gehabt, ihm Gift in den Wein zu schütten, wenn nicht Ihr. Vater murmelte etwas wie, er habe mitJungfer Magdalena Wein gezecht. Dann verließ ihn das Bewusstsein. Der Medicus steckt ihm ein ums andere Mal den Finger in den Schlund, damit er sich erbreche. Bisher vergeblich.«
»Und der Doktor ist sicher, dass Gift die Ursache ist?«
»Ganz sicher. Seine blauen Lippen, sagt der Medicus, seien ein eindeutiges Anzeichen. Gesteht wenigstens, womit Ihr ihn vergiftet habt!«
»Ich war es nicht!«, rief Magdalena immer wieder: »Ich war es nicht! Warum hätte ich das tun sollen? Ich wusste nicht einmal, dass Riemenschneider mich im Gasthaus ›Zum Schwanen‹ aufsuchen würde. Er kam, um mir Einzelheiten über Abt Trithemius zu berichten.«
»Und als er Euch diese anvertraut hatte, habt Ihr ihm Gift in den Becher geschüttet!«
Da holte Magdalena aus und schlug Jörg ins Gesicht.
Verstört, aber keineswegs mit Rachegedanken, blickte er Magdalena an und fand schließlich ein paar Worte der Entschuldigung. »Es tut mir leid. Aber wer kann bloß zu so einer Tat fähig sein?«
»Lasst mich zu ihm!«, entgegnete Magdalena, drängte den jungen Riemenschneider zur Seite und verschwand auf der Treppe nach oben.
Schweinehirt hatte die Auseinandersetzung mit Sorge verfolgt und trug sich mit dem Gedanken, wortlos zu verschwinden, als Jörg ihm einen Wink gab, er möge näher treten. »Ihr müsst das verstehen«, begann er, nachdem die Haustüre hinter ihm ins Schloss gefallen war, »aber man hat meinem Vater schon einmal nach dem Leben getrachtet.«
»Was Magdalena angeht«, fiel ihm Schweinehirt ins Wort, »glaubt mir, sie würde niemandem ein Leid zufügen.«
»Dann sagt, was wollt Ihr von meinem Vater Tilman?«
Schweinehirt dachte eine Weile nach, ob er dem jungen Riemenschneider die Wahrheit anvertrauen solle, dann antwortete er leise: »Euer Vater sagte, die Bruchstücke des Epitaphs von AbtTrithemius lagerten noch irgendwo in Eurer Werkstatt. Sie könnten uns von Nutzen sein.«
Jörg kniff die Augen zusammen und musterte Schweinehirt voller Misstrauen. »Ihr seid nicht die Ersten,
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