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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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zurück. Als wolle er sich die Buchstabenfolge in sein Gehirn einbrennen, ließ Wendelin seinen Blick ein ums andere Mal über die krakelige Inschrift wandern. Schließlich riss er einen verstaubten Pergamentfetzen von der Wand und kritzelte sie mit einem Rötelstift darauf. Dann folgte er dem jungen Riemenschneider ins Haus.
    Magdalenas Kräutergebräu hatte Wirkung gezeigt. Bis auf den letzten Tropfen hatte sich der Magen des alten Mannes entleert, und die Prozedur hatte ihm neues Leben eingehaucht. Unbeirrt und außer Acht lassend, dass Riemenschneider an allen Gliedern zitterte wie Espenlaub, steckte ihm Magdalena einen Trichter aus der Küche in den Mund und entleerte darin einen Humpen warmen Wassers, das der Patient umgehend in weitem Bogen ausspie, worauf er erschöpft in seine Kissen sank.
    Der Medicus, ein vornehm und schwarz gekleideter Mensch mit übertrieben wirkenden Manieren, zog die Augenbrauen hoch und bemerkte, an Magdalena gerichtet: »Meinen Respekt, Jungfer, wäret Ihr kein Weib, Ihr gäbet einen guten Medicus ab! Woher nehmt Ihr Eure Kenntnisse?«
    »Gewiss nicht von der Universität«, erwiderte Magdalena. »Es gibt genug schlaue Bücher, deren man sich im stillen Kämmerlein bedienen kann. Vorausgesetzt, man ist des Lesens kundig. Im Übrigen frage ich mich, welche körperlichen oder geistigen Merkmale eine Frau daran hindern sollen, als Medicus tätig zu sein.«
    Als hätte er ihrer Unterhaltung gelauscht, öffnete Riemenschneider die Augen und herrschte den Medicus an: »Dank Euch, Ihr könnt verschwinden! Bei der Jungfer bin ich in besten Händen.«
    Jörg, der das Geschehen aus der Entfernung beobachtet hatte, trat hinzu und versuchte den Medicus zu beschwichtigen, dessen Gesichtszüge sich verfinstert hatten wie das Firmament vor dem ersten Schöpfungstag. Vater sei dem Tod eben erst von der Schippe gesprungen, bemerkte er hinter vorgehaltener Hand, und nicht Herr seiner Sinne. Beleidigt zog sich der stolze Medicus zurück.
    »Es tut mir leid, dass ich Euch verdächtigt habe«, begann Jörg Riemenschneider kleinlaut, nachdem sie das Krankenlager des Alten verlassen hatten, »aber ich fand keine andere Erklärung für den Zustand meines Vaters. Verzeiht mir!«
    »Schon gut. Ich kann Euch ja verstehen«, antwortete Magdalena. »Zweifellos hatte jemand Interesse, Euren Vater zu vergiften. Gestern Abend in der Wirtsstube beobachtete ich einen Fremden, der uns nicht aus den Augen ließ. Ich schenkte dem keine Bedeutung. Rückblickend sieht die Sache anders aus. Und, ehrlich gesagt, fühle ich mich nicht ganz unschuldig. Irgendjemand will unter allen Umständen verhindern, dass ich mit Tilman Riemenschneider rede.«
    Schweinehirt trat hinzu und zog den Pergamentfetzen aus seinem Wams, auf den er Trithemius’ Inschrift geschrieben hatte.
    »Ich hoffe, sie wird Euch von Nutzen sein«, bemerkte Jörg Riemenschneider. Und in Richtung Magdalenas gewandt: »Betrachtet sie als Dank dafür, dass Ihr meinen Vater ins Leben zurückgeholt habt. Mir selbst sagt die Buchstabenfolge nicht das Geringste.«
    Mit zusammengekniffenen Augen hielt Magdalena das Pergament ins Licht, das nur spärlich ins Innere des Hauses fiel. Einmal,zweimal, immer wieder wanderte ihr Blick von links nach rechts und wieder zurück. Schließlich fragte sie Wendelin: »Was sagt dir diese Zeile? Dir sind doch solche Abkürzungen von Buchtiteln geläufig!«
    »Ich bin kein Hellseher!«, entgegnete Schweinehirt voller Bedauern. »Euch, Junker Jörg, danke ich für Euer Entgegenkommen und Euer Vertrauen.«
    Mit dem Versprechen, in den nächsten Tagen nach dem Rechten zu sehen, verließen die beiden das Haus und schlugen den Weg zum Kloster Sankt Jakobus ein.
    »Ich wollte nicht, dass der junge Riemenschneider etwas über den Inhalt der Inschrift mitbekommt«, bemerkte Schweinehirt im Gehen. »Man weiß nie …«
    »Willst du damit sagen, du hättest sie …?«
    Schweinehirt blickte sich um, ob ihnen niemand folgte. Am Brunnen auf dem Marktplatz, wo Magdalena Tilman Riemenschneider zum ersten Mal begegnet war, machten sie halt und nahmen auf den Stufen Platz, die das wasserspeiende Bauwerk einrahmten. Gemeinsam starrten sie auf das Pergament:
    I.aet.ta.li.Johannis.Trithemii.s.loc.dom.Cae.Hen.
    Langsam, beinahe andächtig, las Magdalena die rätselhafte Zeile. Fragend blickte sie Schweinehirt an.
    Der deutete auf die letzten Buchstaben: »Dominus Caesar Henricus« , sagte er weitaus unsicherer, als es den Anschein hatte, »unser Herr,

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