Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
Vom Netzwerk:
mir nur etwas vor – aus welchen Gründen auch immer?«
    Lucius nickte, aber das bedeutete keineswegs Zustimmung. Im Gegenteil, aus seiner Kopfbewegung sprach tiefe Trauer. »Ich wollte, es wäre so«, bemerkte er. »Aber wie ich schon sagte, Blinde sehen anders. Ich erkenne Papier am Rascheln, das es verursacht. Trithemius hat die Drucklegung dieses Manuskripts übrigens nicht mehr erlebt. Es erschien erst zwei Jahre nach seinem Tod.«
    »Glaubt Ihr, das Werk könnte den Schlüssel zur Inschrift auf dem Epitaph enthalten?«
    Bruder Lucius hob die Schultern. »Zumindest hat Trithemius in seiner Polygraphia alle bekannten Geheimschriften aufgeführt. Auch solche, die er selbst erfunden hat wie die Tabula recta .«
    » Tabula recta ? Die quadratische Tafel?«
    »Ganz recht. Ihr habt noch nie davon gehört?«
    »Wenn ich ehrlich sein soll: nein.«
    Lucius wandte sich erneut dem tönernen Krug zu und zog, nachdem er den Inhalt lange befühlt hatte, den fünften von Hand geschriebenen Teil der Polygraphia hervor. Nicht ohne Stolz hielt er ihn Schweinehirt entgegen.
    »Etwa in der Mitte findet Ihr die Tabula recta , eine quadratische Tafel mit den waagerecht und senkrecht geschriebenen Buchstaben des Alphabets. Allerdings ist jede der ersten Zeile folgende Zeile um einen Buchstaben nach links verschoben, sodass das Alphabet der zweiten Zeile nicht mit A, sondern mit B beginnt, die dritte mit C und so weiter. Hätte Johannes Trithemius meinen Namen Lucius verschlüsselt, wäre daraus Lvelyx geworden.«
    »Tut mir leid«, knurrte Schweinehirt, »das verstehe ich nicht!«
    »Ganz einfach«, erwiderte Bruder Lucius, den Kopf zur Deckegerichtet, »das L in der ersten Zeile bleibt gleich. Unter dem U, dem zweiten Buchstaben meines Namens in der ersten Zeile, steht in der zweiten Zeile das V, für C in der dritten Zeile das E, für I in der vierten Zeile ein L, für U in der fünften Zeile das Y, und das S am Ende meines Namens wird in der sechsten Zeile zu X. So wird aus Lucius Lvelyx.«
    »Jetzt begreife ich«, rief Schweinehirt aufgeregt und ließ den Blick über das scheinbare Buchstabengewirr der Tabelle gleiten.
    Gemeinsam begannen sie die zerstörte Inschrift nach dem System der Tabula recta des Trithemius zu entschlüsseln. Dabei vermittelte der blinde Bruder Lucius den Eindruck, als habe er die verwirrende Tafel mit allen Buchstaben im Kopf.
    Schweinehirt hatte Mühe, ihm zu folgen und das Ergebnis auf einem Papier niederzuschreiben. Es war eine unsinnige Aneinanderreihung von Buchstaben. Wütend schleuderte Schweinehirt seinen Rötel an die Wand und stützte den Kopf in beide Hände.
    »Den Versuch war es wert«, brummte Bruder Lucius. Er war nicht weniger enttäuscht. »Vielleicht«, begann er nach einer Weile gemeinsamen Schweigens, »vielleicht denken wir zu kompliziert. Wäre es nicht möglich, dass Trithemius sich seiner Sache zu sicher war und gar keine Anstalten machte, die rätselhafte Umschrift auf seinem Epitaph zu verschlüsseln?«
    Schweinehirt sah Lucius an. Da war es wieder, dieses überhebliche Grinsen, das er nur schwer zu deuten vermochte. »Ihr glaubt, Trithemius bediente sich nur ganz gewöhnlicher Abkürzungen?«
    »Ich glaube nur an Gott, den Allerhöchsten, und selbst da mache ich gewisse Einschränkungen.«
    Lucius’ Antwort gab Anlass zum Nachdenken, doch im Augenblick stand Wendelin die Inschrift auf dem Epitaph näher als das fragwürdige Glaubensbekenntnis des Benediktiners, und so verzichtete er auf jede Nachfrage.
    »Für meine Annahme«, fuhr Lucius fort, »spricht zumindest die Redewendung, mit der die Inschrift beginnt: I.aet. – bis in alleEwigkeit. Denkt darüber nach. Ich muss Euch jetzt leider verlassen und an der Klosterpforte nach dem Rechten sehen. Gott mit Euch!«
    Wendelin Schweinehirt verbrachte den Tag mit Grübeln und der Verknüpfung wirrer Gedanken, ohne einem brauchbaren Ergebnis auch nur einen Schritt näherzukommen. Insgeheim verfluchte er das gespaltene Epitaph des Trithemius, das solche Anziehungskraft auf ihn ausübte.
    Wie gewohnt traf er sich abends beim Angelus mit Magdalena, mutlos und der Verzweiflung nahe.
    »Mir kam da etwas ins Gedächtnis, das ich beinahe vergessen hätte«, begann sie. »Wo ist der Pergamentfetzen mit der Abschrift?«
    »In der Bibliothek«, antwortete Wendelin. »Ich habe zusammen mit Bruder Lucius viel Zeit verbracht und eine Reihe einschlägiger Bücher studiert. Alles vergeblich. Und du glaubst, etwas herausgefunden zu haben? Dann

Weitere Kostenlose Bücher