Die Frau des Seiltaenzers
meinte Magdalena, nachdem sie das Bauwerk dreimal umrundet und mit den Augen in sich aufgesogen hatten.
»Das lag durchaus in der Absicht seiner Erbauer«, erklärte Schweinehirt. »Es gab eine Zeit, und die ist noch nicht so lange her, da waren die Päpste, Kardinäle, Bischöfe und der Klerus bemüht, die Gläubigen klein und demutsvoll zu halten. Am einfachsten erreichten sie dasdadurch, dass sie gewaltige, furchteinflößende, übernatürliche Gotteshäuser aus dem Boden stampften. Ein kleines Kirchlein fordert eher zum Widerspruch heraus. Ein Bauwerk wie dieses duldet nur Demut und Gehorsam. Aber wem sage ich das!«
Magdalena nickte nachdenklich. »Insofern«, meinte sie schließlich, »ist der Dom des Kaisers Heinrich der ideale Platz für verborgene Schätze. Abt Trithemius wusste vermutlich genau, warum er die ›Bücher der Weisheit‹ gerade hier und nicht andernorts versteckte. Man kann sich schwer vorstellen, dass jemand es wagt, in den geheiligten Mauern dieses Bauwerks Bücher zu verstecken mit so profanem, ja ketzerischem Inhalt wie dem, Gold zu machen oder wundertätige Elixiere zu brauen.«
Während sie so redete, den Blick auf die Spitze des nordöstlichen der vier Türme gerichtet, wurde von innen die Gnadenpforte geöffnet. Ein alter Mann in grün-rotem Talar trat heraus und blinzelte in die Morgensonne, die mit ersten zaghaften Strahlen durch den Nebel stach. Der himmelwärts aufsteigende Domplatz war menschenleer. Noch herrschte friedliche Stille. Nur von der Alten Hofhaltung vernahm man Hundegebell.
»Ihr seid nicht von hier?«, rief der Alte in seiner Phantasieuniform vom oberen Absatz der Domtreppe herab.
Wendelin schüttelte den Kopf, ohne zu antworten.
»Wenn Ihr wollt, führe ich Euch durch den Dom. Dazu bin ich da. Es kostet nur einen Obolus in den Opferstock!«
Magdalena sah Wendelin an. Der Domführer kam wie gerufen. Vergeblich hatten sie sich Gedanken gemacht, wie sie bei der Suche nach den Büchern vorgehen sollten. Sollten sie die Wände abklopfen und nach einem Hohlraum suchen? Das erschien so unsinnig wie die Suche nach einer Perle auf dem Grund der Regnitz. Schweinehirt hatte die Vermutung geäußert, dass Trithemius das Versteck symbolhaft oder auf irgendeine andere Weise verschlüsselt gewählt haben könnte. In dieser Hinsicht konnte der Domführer wertvolle Dienste leisten.
Nachdem Wendelin eine Münze in den Opferstock am Eingang der Gnadenpforte geworfen hatte, begann der Führer mit seinen Erklärungen. Dabei fiel er in einen eigenartigen Singsang, der sich in der Tonlage wenig vom Chorgebet der Zisterzienser von Eberbach unterschied.
Mit Interesse nahmen Magdalena und Wendelin zur Kenntnis, dass der vor fünfhundert Jahren errichtete Dom des Kaisers Heinrich bereits zweimal abgebrannt und wieder neu errichtet worden war, zuletzt vor dreihundert Jahren auf Betreiben von Bischof Ekbert. Während der Jahrhunderte dauernden Bauzeit hatten sich Zeitgeschmack, Denkweise und Bedürfnisse seiner Erbauer immer wieder geändert, und so war daraus ein Bauwerk unterschiedlicher Stile erwachsen, bisweilen verwirrend in seiner Architektur und geheimnisvoll wie das Weltenende am Jüngsten Tag. Geheimnisvoll deshalb, weil während der langen Bauzeit Bedeutung und Symbolik der zahlreichen Skulpturen und Reliefs verloren gegangen waren, was bisweilen durchaus peinlich war. So konnte beispielsweise niemand erklären, warum im Jüngsten Gericht über dem Fürstenportal, wo zur Rechten Gottes die Seligen, zu seiner Linken aber die Verdammten platziert waren, warum sich unter den Verdammten unverkennbar ein König, ein Bischof und – Gott sei bei uns – sogar ein Papst befanden, Letzterer unzweifelhaft erkennbar an seiner Tiara.
Das größte Rätsel freilich war der Bamberger Reiter, ein annähernd lebensgroßes Wand-, kein Standbild, zusammengesetzt aus einem Dutzend Steinen. Eine Skulptur, von der niemand zu sagen wusste, woher sie kam und wen sie darstellte. Ihre Herkunft und Bedeutung war einfach vergessen worden. Jetzt stand der steinerne Reiter da, auf einem Wandsockel, und blickte gelassen, beinahe überheblich über die Köpfe der Gläubigen.
Kein Zweifel, der Dom Kaiser Heinrichs, der eines der größten Geheimnisse der Menschheit bergen sollte, war selbst ein einziges Rätsel.
»Kennt Ihr denn alle oder zumindest die meisten Geheimnisse in diesem Dom?«, erkundigte sich Magdalena vorsichtig beim Domführer, nachdem sie das Wichtigste über das Bauwerk erfahren
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