Die Frau des Seiltaenzers
hatten.
Da schmunzelte der alte Mann mit gesenktem Kopf und antwortete hüstelnd: »Ein Menschenleben ist nicht genug, alles zu ergründen, was innerhalb dieser Mauern von Menschenhand geschaffen wurde.« Und eilends fügte er hinzu: »Zur höheren Ehre Gottes!«
Inzwischen füllte sich der Dom mit immer mehr Besuchern, Menschen, die von weither kamen, um das Wunderwerk zu besichtigen, und mit einigen Bürgern der Stadt zum frommen Gebet.
Als sich der Domführer verabschiedete, um sich anderen Besuchern zuzuwenden, fasste ihn Magdalena am weiten Ärmel seiner rot-grünen Tracht. »Gestattet mir zum Schluss eine Frage!«
Mit erhobener Hand mahnte Schweinehirt zur Zurückhaltung. Eine falsche Frage reichte, den Grund für ihr besonderes Interesse an dem Bauwerk zu verraten.
»Könnte es nicht sein«, fuhr Magdalena fort, »dass sich in diesem rätselhaften Bauwerk noch Hinweise auf Dinge befinden, von denen wir keine Ahnung haben?«
Unwillig befreite sich der Führer aus Magdalenas Griff und wandte sich um. Im Gehen sagte er mit gedämpfter Stimme, als wollte er nicht, dass ihn jemand hörte: »Das könnte nicht nur so sein, Jungfer, das ist so! Und es ist gut so, wie es ist.«
Magdalena und Wendelin sahen sich lange an. Sie begriffen nicht, was sich hinter der Antwort des alten Mannes verbarg.
Auf der Suche nach irgendeinem Hinweis auf die ›Bücher der Weisheit‹ verbrachten sie den ganzen Tag bis zum Abend im Dom. Dabei nahmen sie jedes Grab, jedes Denkmal und jedes Epitaph in Augenschein. In verwirrender Vielfalt wurde die Vergangenheit lebendig.
Bisweilen fühlte sich Magdalena von Klerikern des Domkapitels beobachtet, die sich an ihre Fersen hefteten und versuchten,Gesprächsfetzen zu erhaschen. Wandte sich der eine ab, folgte ihm ein anderer.
Zuerst zweifelte Magdalena, ob sie sich das alles nur einbildete; aber im Laufe des Tages gewann sie den Eindruck, dass die Überwachung immer deutlicher wurde. Sie ergriff Wendelins Arm und zog ihn mit sich fort ins Freie.
»Was hast du?«, erkundigte sich Schweinehirt, an dem die heimlichen Beobachtungen im Dom unbemerkt vorübergegangen waren.
»Hast du nicht gemerkt, dass wir ständig verfolgt und belauscht wurden?«, antwortete Magdalena vorwurfsvoll.
Schweinehirt versuchte Magdalena zu beruhigen: »Ich kann deine Verwirrung verstehen. Ich würde lügen, wenn ich behauptete, die Suche nach den verbotenen Büchern ließe mich kalt. Vor dem Grab des Kaisers Heinrich und seiner Frau Kunigunde, das Tilman Riemenschneider gefertigt hat, schlug mein Herz bis zum Hals. Ich überlegte: Was mochte Riemenschneider, der in das schlichte Epitaph des Trithemius solche Geheimnisse eingearbeitet hat, was mochte dieser Mann erst im Grab des Kaisers hinterlassen haben? Warum haben wir Riemenschneider nicht gefragt?«
Magdalena schüttelte den Kopf: »Wir dürfen jetzt nicht in den Irrtum verfallen, Riemenschneider könnte in jedem seiner Kunstwerke eine Botschaft eingearbeitet haben.«
Wendelin nickte.
Der Domplatz leerte sich. Stille kehrte ein. Und während Magdalena und Wendelin die kühle Spätsommerluft in sich aufsogen und beinahe flüsternd berieten, wie sie weiter vorgehen sollten, hörte man von der Gnadenpforte, wie die erzene Türe ins Schloss fiel.
»Und wenn wir uns kommende Nacht im Dom einschließen lassen?«, fragte Magdalena, den Blick auf den Eingang gerichtet.
Schweinehirt dachte nach.
»Wenn wir uns heute schon auffällig benommen haben«, legte Magdalena nach, »dann erregen wir morgen erst recht Aufsehen. Inder Krypta unter dem Dom sind Bauarbeiten im Gange. Dort gibt es genug Möglichkeiten, sich zu verstecken.«
»Du hast Mut!«, bemerkte Schweinehirt bewundernd. »Bei Nacht allein in einem Raum mit einem toten Kaiser, fünf Dutzend toten Bischöfen und Dompröpsten und einem halben Jahrtausend Geschichte! Dein Entschluss fordert mir Respekt ab. Das willst du tun?«
»Sonst hätte ich es nicht vorgeschlagen. Die Auferstehung der Toten erfolgt erst am Jüngsten Tag, und bisher gibt es keine Vorzeichen, dass diese bevorstünde.« Magdalena musste schmunzeln.
22. KAPITEL
A m Tag darauf schlüpften Magdalena und Wendelin kurz vor Schließung des Doms in das Innere des Bauwerks. Unbemerkt gelangten sie in die Krypta, wo die Steinmetze bereits die Arbeit eingestellt hatten.
Hinter einer aufgeschichteten Mauer aus Sandsteinen, die hier zur Restaurierung der Treppen lagerten, ließen sie sich nieder. Es war düster. Durch die wenigen
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