Die Frau des Seiltaenzers
des Toten erblickte.
»Man hat ihn erdrosselt«, stammelte sie, »mit einer Schlinge erdrosselt, verstehst du?«
Schweinehirt begriff sehr wohl. Er schüttelte den Kopf. »Das muss erst vor kurzer Zeit passiert sein, auf jeden Fall nach Schließung der Domtüren. Erinnerst du dich an die seltsamen Geräusche,die in der Krypta zu hören waren?« Wendelin nahm Magdalena die Laterne aus der Hand und hielt sie hoch. Mit zitternder Hand leuchtete er ins Chorgestühl zu beiden Seiten des Chorraums.
»Denkst du, der Mörder sitzt hier noch herum?«, fragte Magdalena, um ihre Angst zu überspielen. Sie nahm Wendelin die Laterne aus der Hand und stellte sie neben der Leiche auf den Boden.
»Da!« Magdalena deutete auf ein helles Etwas, das unter dem Mantel des toten Mannes hervorlugte.
Mit spitzen Fingern zog Schweinehirt ein mehrfach gefaltetes Papier hervor und reichte es Magdalena.
»Ein wichtiges Dokument«, flüsterte sie aufgeregt, während sie das Papier entfaltete. »Ein handgeschriebener Brief mit dem Wappen Albrechts von Brandenburg!«
Sie sahen sich fragend an.
Schließlich begann Magdalena stockend zu lesen: »Wir, von Gottes Gnaden Erzbischof und Kurfürst von Mainz, versprechen auf den Tod, dem wohlgelehrten Steganographen Athanasius Helmont aus Brabant, Wohnung nehmend derzeit im Nasengässchen zu Mainz, den zehnten Teil der Einkünfte, welche zustande kommen durch die wohlgelehrte Entschlüsselung des Rätsels um die Inschrift HICIACCOD, welche der Unterzeichnete, Seine kurfürstliche Gnaden Albrecht von Brandenburg, und sein Secretarius Joachim Kirchner mit eigenen Augen gesehen am Leib des Rudolfos Rettenbeck selig, genannt der Große Rudolfo, dem Gott der Herr gnädig sei. Gezeichnet: Albrecht – Niedergelegt durch Joachim Kirchner.«
Darunter stand, mit flüchtigem Stift festgehalten:
HIC IACENT CODICES
»Hier liegen die Bücher!«, murmelte Magdalena leise vor sich hin. »Dann ist der Tote der Steganograph Athanasius Helmont, der bis vor wenigen Tagen bei der Pfisterin in der ›Hölle‹ wohnte.«
Sie gab Schweinehirt das Pergament zurück. Der nahm es, faltete es und schob es wieder in die Kleidung des Toten.
Nach Augenblicken nachdenklichen Schweigens begann Magdalena: »Ich bin dir wohl eine Erklärung schuldig. Der Große Rudolfo, musst du wissen, hatte in der Leistenbeuge eine Tätowierung: eine dreischwänzige Schlange und darunter die Buchstabenfolge HICIACCOD. Um die Bedeutung der Tätowierung machte Rudolfo ein großes Geheimnis. Früher oder später hätte er es mir sicher erklärt. Allerdings kam ihm der Tod zuvor. Mir ist rätselhaft, wie Albrecht von Brandenburg von der Tätowierung erfahren hat.«
»Hätte mich auch gewundert, wenn der feine Herr Erzbischof von Mainz seine dreckigen Finger nicht mit im Spiel gehabt hätte!«, bemerkte Schweinehirt. »Leider hilft uns die Erkenntnis, die wir aus diesem Brief ziehen können, nicht weiter.«
»Aber wer steckt hinter den Morden? Erst Xeranthe, mit der Athanasius Helmont ein Verhältnis pflegte. Und jetzt er selbst.« Magdalena erhob sich und ließ sich im Chorgestühl nieder. Wie gebannt starrte sie in das Licht der Laterne, die neben dem toten Steganographen auf dem Boden stand und einen matten Schimmer auf einen unscheinbaren grauen, beinahe schmucklosen Sarkophag warf. Im Vergleich zu anderen Grabmälern im Dom wirkte er so bescheiden, dass er meist übersehen oder nicht beachtet wurde. Die Seitenreliefs waren wenig kunstvoll, im Vergleich zu Riemenschneiders Kaisergrab sogar bescheiden.
Magdalenas Blick blieb an einem der Seitenreliefs hängen. Es war wie die übrigen Darstellungen rätselhaft: ein nackter Jüngling, hinter dem – Magdalena wollte nicht glauben, was sie sah – eine dreischwänzige Schlange zu sehen war – oder drei Flüsse, die sich zu einem vereinen.
»Wer wurde hier bestattet?«, erkundigte sich Magdalena aufgeregt.
»Das ist das Grab des Bamberger Bischofs Suidger von Mayendorff, der als Papst Clemens II. in die Geschichte einging…«
»Sag das noch mal!«, unterbrach ihn Magdalena.
»Im Jahre des Herrn 1046 wurde Suidger zum Papst gewählt, und er gab sich den Namen Clemens.«
Magdalena schluckte, als hätte sie Schwierigkeiten, das Gehörte zu verarbeiten. » Clemens , sagst du …« Dabei ließ sie den Sarkophag nicht aus den Augen. » Clemens war das letzte Wort, das der Große Rudolfo sterbend auf dem Domplatz in Mainz stammelte!«
Schweinehirt betrachtete abwechselnd Magdalena und den
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