Die Frau des Seiltaenzers
konnte. Ohne eine Nachricht zu hinterlassen, floh ich aus dem Kloster der Benediktiner in Richtung Regensburg. Es fügte sich, dass ich am Flussufer einen Schiffer traf, der seinen Frachtkahn mit zwei kräftigen Ackergäulen donauaufwärts zog. Er kam seiner Aufgabe allein, ohne einen Helfer, nach und hatte alle Mühe, das flachbauchige Schiff vom Ufer fernzuhalten. Ich musste daher nicht einmal betteln, ob er mich mitnähme. Wenn ich im Kahn das Ruder führte, meinte er, habe er in Regensburg sogar ein Trinkgeld für mich übrig. Auf diese Weise erreichte ich Regensburg in weniger als zwei Tagen. Ich wünschte, ich wäre dort nie angekommen.
Vor den Mauern der Stadt drängten sich Hunderte Menschen um einen qualmenden Scheiterhaufen. Im Näherkommen hörte ich Rufe: »Brenne, brenne, Teufelshure!« Aber auch anderes Geschrei: »Schickt die Dominikaner auf den Scheiterhaufen!« Und: »Nieder mit der Inquisition!«
Eine Alte, die mir Gebete murmelnd entgegenkam, fragte ich in meiner Verwirrung, was hier los sei. Die Teufelshure habe den Bischof verhext, krächzte sie, um sofort wieder in den trostlosen Singsang ihrer Gebete zu verfallen. Da war mir klar, dass ich zu spät kam.
Ich weiß selbst nicht, welcher Teufel mich ritt, als ich mich durch den geifernden Pöbel in die vorderste Reihe drängte. Was wollte ich eigentlich sehen? Wie meine Mutter brannte? Inzwischen waren die beiden Parteien aneinandergeraten. Die Befürworter des Urteils der Inquisition prügelten auf die Gegner ein, welche dasSchandurteil und mit ihm die ganze Inquisition verurteilten. Auch ich bekam einige Schläge ab – ich weiß nicht mehr von welcher Partei –, doch der schlimmste Schlag traf mich, als ein Windstoß den Qualm, der bis dahin den Scheiterhaufen und sein Opfer gnädig eingehüllt hatte, beiseitedrückte.
Ein Aufschrei aus Hunderten von Kehlen. Nur ich blieb stumm. Hoch über mir, in der Mitte des glimmenden Holzstoßes, erkannte ich, an einen Pfahl gebunden, meine Mutter. Ihr sackartiges Büßergewand, in das man sie für ihren letzten Weg gesteckt hatte, hing in schwarzen Lappen an ihrem Leib. Der Kopf war nach hinten gefallen, und ihr langes Haar glühte wie ein entzündeter Heuhaufen. Stumm vor Entsetzen, vergaß ich zu atmen. Ich sah ihren weit aufgerissenen Mund, als stieße sie einen Schmerzensschrei aus. Doch sie war schon lange nicht mehr bei Bewusstsein.
Dies alles erblickte ich vor meinen Augen; aber es erreichte nicht meinen Verstand, der mir ständig sagte: Was du da siehst, ist kein böser Traum, was sich hier vor dir abspielt, ist furchtbare Realität. Auch der Pöbel brauchte eine gewisse Zeit, um das Geschaute zu verarbeiten. Für die Zeitspanne eines Luftzuges war es still geworden, dass man das Knacken und Prasseln des Feuers hörte, mehr nicht. Bis schließlich aus den hinteren Reihen erneut der Ruf erschallte: »Brenne, brenne, Teufelshure!« Und sogleich hielt die gegnerische Partei dagegen: »Nieder mit der Inquisition!«
Der Luftzug hatte die Flammen inzwischen noch mehr entfacht. Gelbbrauner Qualm verhüllte das schauderhafte Schauspiel wie ein schwerer Theatervorhang. Ich selbst wollte einstimmen in die Rufe gegen die Dominikaner. Aber ich brachte nur hervor: »Nieder …« Da traf mich ein Schlag, als führe ein Blitz in meinen Kopf. Mir war, als verbrannte ich in meinem Innern. Eine unsagbare Starre bemächtigte sich meines Körpers. Ich dachte noch, wenn dich jetzt jemand anstößt, zerbrichst du in tausend Stücke wie ein tönerner Krug, der auf das Pflaster fällt. An mehr kann ich mich nicht mehr erinnern.
Abseits im Staub liegend, kam ich zu mir, als ein gütiges Frauenzimmer, eine beleibte Matrone, mir ein Scheffel Wasser ins Gesicht schüttete und sich nach meinem Befinden erkundigte. Verunsichert blickte ich um mich. In einiger Entfernung sah ich den niedergebrannten Scheiterhaufen oder das, was die Flammen übrig gelassen hatten. Ein beißender Gestank lag in der Luft und hatte die meisten Gaffer vertrieben. Einige tanzten mit zufriedenem Grinsen um den Haufen verkohlter Holzscheite und schwelender Asche.
Ich wollte die Frage der beleibten Matrone beantworten. Dass es mir gut gehe, dass ich aber noch Zeit brauchte, um mich vollends zu erholen. Im Übrigen wollte ich mich für ihre Hilfe bedanken. Aber dazu kam es nicht: Vergeblich riss ich den Mund auf, versuchte erfolglos auch nur einen Ton hervorzubringen, holte tief Luft und nahm erneut Anlauf. Doch ich blieb stumm wie ein Fisch.
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