Die Frau des Seiltaenzers
Ich glaubte den Verstand zu verlieren, als ich ein ums andere Mal zum Sprechen ansetzte. Vergebens.
In diesem Augenblick befielen mich trübe Gedanken. Etwa, dass meine Mutter doch vom Teufel besessen gewesen war und dass der Leibhaftige sich nun meiner bemächtigt habe. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist, wenn du in Gedanken klare Worte formulierst, aber nicht in der Lage bist, diese Wörter auszusprechen.
Als wäre der Teufel hinter mir her, sprang ich auf, klopfte den Staub von meinem Gewand und rannte davon. Ich hetzte über die steinerne Brücke in Richtung Norden. Wohin ich eigentlich wollte, war mir nicht klar. Nur weg vom Ort des grauenhaften Geschehens.
Erst gegen Abend, als meine Lungen schmerzten und jeder Schritt ein Stechen in der Seite verursachte, ließ ich mich an einem Waldrand ins Moos fallen. Drei Wochen irrte ich durch die Höhen und Täler des Steigerwaldes, bat gestenreich um Arbeit bei den Bauern. Aber die meisten jagten mich davon, weil sie mich nicht verstanden oder fürchteten, ich könnte besessen sein.
Nach drei Wochen, in denen ich mich vom Betteln ernährte und dem, was der Wald zur Sommerzeit hergab, kam ich zum Hofdeines Vaters. Er suchte seit Langem einen Knecht ohne Lohn. Den Rest der Geschichte kennst du …«
Magdalena hatte ergriffen Melchiors Worten gelauscht. Mit dem Handballen wischte sie die Tränen aus ihren Augen.
»Jetzt verstehe ich, warum du die Sprache verloren hast«, bemerkte sie leise schluchzend. »Aber was die Besessenheit anbelangt, solltest du dir keine Gedanken machen. Was dir widerfahren ist, hätte auch jeden anderen verstummen lassen.«
»Jedenfalls«, antwortete Melchior, »mied ich seither jedwedes Feuer. Ich fürchtete es wie der Teufel das Weihwasser. Hätte ich geahnt, dass es ausgerechnet des Feuers bedurfte, um mich von meiner Sprachlosigkeit zu erlösen, ich wäre beim nächsten Johannisfeuer mit den Jungen über die Flammen gesprungen. Allerdings ist mir während meiner Stummheit auch bewusst geworden, wie viel Unnötiges und Dummes die Menschen reden, das sie besser für sich behalten würden. Hörst du mir überhaupt noch zu?«
An Magdalenas regelmäßigem Atem merkte Melchior, dass sie eingeschlafen war. Ihm war das gar nicht unlieb. Er selbst war nicht weniger schläfrig, und es bedurfte nur weniger Augenblicke, bis auch Melchior einschlief.
Durch die winzigen Fenster der Kammer fielen bereits die ersten Sonnenstrahlen, als Magdalena und Melchior von rüdem Lärm geweckt wurden. Schwere Schritte suchten den Weg treppauf nach oben. Vor ihrer Türe angelangt, hörte man geheimnisvolles Flüstern, und noch ehe die Herbergsgäste richtig wach waren, wurde die Zimmertüre aufgestoßen, und vier Männer scharten sich in drohender Haltung um das Bett.
Magdalena setzte ihre Haube auf und zog ihre Schaffelldecke bis zum Hals. Unter den vier Männern erkannte sie den Wirt vom ›Roten Ochsen‹. »Was soll diese Ungehörigkeit?«, wies sie den Alten zurecht. Und Melchior knurrte mit belegter Stimme: »Macht, dass ihr rauskommt.«
Da ergriff der zweite das Wort und gab sich als Amtmann zu erkennen, in Begleitung zweier Schergen. An den Wirt vom ›Roten Ochsen‹ gewandt stellte er die Frage: »Ist das jenes Weib, welches den Florentiner Goldgulden aus seinem Gewand hervorzog?«
Der Wirt nickte und schlug die Augen nieder.
Da wandte sich der Amtmann an Magdalena: »Wie ist dein Name, dein Alter und deine Herkunft?«
Magdalena warf Melchior einen hilfesuchenden Blick zu. Aber auch der zeigte sich im Augenblick verunsichert, wie sie der Sachlage begegnen sollten.
In der Hoffnung, dass sie damit die Situation entschärfen könnte, erklärte Magdalena mit fester Stimme: »Ich heiße Magdalena Beelzebub, bin 22 Jahre alt und leibliche Tochter des Lehnsmanns Gebhard Beelzebub, der ein Gehöft zwei Tagereisen von hier bewirtschaftet.«
»Und er?« Der Amtmann zeigte mit geballter Faust und gestrecktem Daumen auf Melchior.
»Ich begleite Magdalena auf dem Weg nach Würzburg«, kam ihr Melchior mit der Antwort zuvor.
»Ach!«, bemerkte der Amtmann spitz. »Und nachts teilst du mit ihr das Lager?«
Melchior erhob sich, trat vor den Amtmann hin, den er um einen ganzen Kopf überragte, und sagte: »Ich wüsste nicht, was Euch das angeht! Und wenn Magdalena einen Goldgulden aus ihrem Gewand hervorzieht, erkenne ich darin keine strafbare Handlung, wenn nicht die, dass der ›ehrenwerte‹ Herbergsvater seine Gäste fälschlich des Diebstahls
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