Die Frau des Seiltaenzers
Einem allein, und sei seine Kunst noch so bedeutsam, kann das nie gelingen. Aber je vielfältiger wir Gaukler auftreten, desto bereitwilliger lässt sich das Volk verführen. Gaukler sind Verführer …«
»So rede schon«, ereiferte sich Magdalena, »was hast du für mich vorgesehen?«
»Du wirst in der Menagerie auftreten. Als die Frau, welche sieben Tage bei lebendigem Leibe begraben war.«
Magdalena blickte verwirrt. »Aber ich war nie lebendig begraben. Das wäre Betrug, Großer Rudolfo!«
Da grinste der Seiltänzer hinterhältig und sagte: »Sind wir Gaukler nicht alle Betrüger? Wir gaukeln den Menschen etwas vor, was nicht den Tatsachen entspricht. Die Zwergenkönigin ist keine Königin, sondern ein bedauernswertes kleinwüchsiges Wesen. Der Riese von Ravenna ist kein Riese von Geburt, sondern durch ein klägliches Unglück groß gewachsen. Und was er an Größe zu viel hat, hat er an Geist zu wenig. Der Jongleur gibt vor, ein Hexenmeister zu sein, der fünf Bälle auf einmal in die Luft wirft und wieder auffängt. Er ist es nicht. Seine Kunst ist keine Hexerei, sondern nur Übung und noch einmal Übung.«
»Und du, Großer Rudolfo? Wenn du auf dem Seil die höchsten Türme besteigst? Ist das etwa auch Betrug?«
»Ja. Nichts anderes.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Sollst du auch nicht«, entgegnete der Seiltänzer knapp. Und eilends fügte er hinzu: »Ich will dir nur zeigen, dass du keine Skrupel zu haben brauchst. Sicher hast du von der Frau eines Zimmermanns gehört, die im vergangenen Jahr sieben Tage im Sarg unter der Erde lag, weil man sie für tot hielt. Erst am achten Tag wurde der Totengräber auf ihre Klopfzeichen aufmerksam. Als man ihren Sarg herausholte und öffnete, war ihr Gesicht aschfahl, und sie hatte alle Haare verloren. Die lagen in ihrem Sarg verstreut. Sie hatte sich selbst die Haare ausgerauft. Aber sie lebte. Der Fall erregte großes Aufsehen, auch in Frankreich und den Niederlanden. Sogar der Papst in Rom ließ sich davon berichten.«
Magdalena strich sich über den Kopf. Mein Gott, sie hatte vergessen, ihre Haube aufzusetzen, die ihr bisher manche Erklärung erspart hatte. Jetzt schämte sie sich. Am liebsten wäre sie im Erdboden versunken. Zögernd meinte sie: »Jetzt erwartest du sicher eine Erklärung von mir, wo meine Haarpracht geblieben ist.«
»Wo wird sie schon geblieben sein«, entgegnete Rudolfo mit süffisantem Unterton. »In irgendeinem Kloster natürlich.«
»Und du willst nicht wissen, warum und wieso?«
»Ach was! Das ist ganz allein deine Angelegenheit, die keiner Rechtfertigung bedarf.«
Es war nicht einfach, diesem Rudolfo beizukommen, noch schwerer, ihn zu durchschauen. Er schien alles zu können, alles zu wissen und – alles zu wollen. Auch das Unmögliche.
Seine Forderung, sie solle sich als lebendig Begrabene mit kahlem Schädel, womöglich noch im Totenhemd, zur Schau stellen, erschien ihr einfach unannehmbar. Aber Magdalena ahnte, dass es wohl zwecklos sein würde, sich seinem Ansinnen zu widersetzen. Trotzdem meinte sie: »Und wenn ich deinen Wunsch ablehne? Wenn ich mich weigere, in der Menagerie als lebende Leiche aufzutreten?«
Rudolfo hob die Augenbrauen, dass sie einen Halbkreis bildeten, und erwiderte gelassen: »Dann hat unsere Gauklertruppe einen Esser zu viel.«
Magdalena verstand, was er sagen wollte. Natürlich war ihr klar, dass der Große Rudolfo nicht mit sich handeln lassen würde. »Gib mir einen Tag Bedenkzeit«, meinte sie schließlich.
»Wenn du willst auch zwei. Aber dann solltest du eine Entscheidung getroffen haben.« Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, öffnete er die Türe seines Gauklerwagens, und mit einer unmissverständlichen Armbewegung komplimentierte er Magdalena hinaus.
In der Dunkelheit, die der Mond zwischen den Wolken kaum aufzuhellen vermochte, fühlte sie die Augen der übrigen Gaukler auf sich gerichtet. Auch wenn sie kein einziges Gesicht erkennen konnte, ahnte sie die neidischen Blicke des Quacksalbers, des Jongleurs, des Marktschreiers, des Riesen und der Wahrsagerin, und sie hörte, wie sie feixten. Fortan war klar, warum der Große Rudolfo, dem im Übrigen der Ruf vorauseilte, ein Schwerenöter und Weiberheld zu sein, Magdalena aufgenommen hatte.
Nachdem sie Melchior im Finstern unter der Zeltplane ausgemacht hatte, legte sich Magdalena in voller Kleidung neben ihn. Im Flüsterton berichtete sie, was sie im Wagen des Seiltänzers erlebt und wofür Rudolfo sie ausersehen hatte. Und sie
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