Die Frau des Seiltaenzers
Nachtruhe legen, als die geifernde Stimme des Quacksalbers die einsetzende Stille in der Waldlichtung zerschnitt: »Magdalena, du sollst zu Rudolfo kommen!«
Rudolfo pflegte stets etwas abseits in seinem Gauklerwagen zu nächtigen, einem blau und rot bemalten Gefährt aus fein gehobeltem Bretterwerk mit einem Kutschbock für den Wagenlenker. Den Wagen umrankte etwas Geheimnisvolles. Nicht ohne Grund, denn Rudolfo gewährte keinem aus seiner Truppe Zutritt außer dem Quacksalber, und der, ohnehin nicht gerade redselig, weigerte sich zu erzählen, wie es darin aussah. Ja, bisweilen fragten sich die Gaukler sogar, ob Rudolfo überhaupt mit ihnen reiste. Ob der Wagen nicht ohne ihn unterwegs war.
Davon wusste Magdalena nichts. Trotzdem empfand sie eine gewisse Beklemmung, als sie in der Dämmerung die fünf Stufen der ausgeklappten Holztreppe nahm und die Türklinke niederdrückte. Die Tür war verschlossen. Schließlich wurde ein Riegel zurückgeschoben, die Tür nach innen geöffnet, und Rudolfo erschien, wie sie ihn kannte: in weißen Hosen aus Seide und einem weißen Hemd mit weiten Ärmeln. Ohne ein Wort, nur mit einer einladenden Handbewegung, deutete Rudolfo an, sie möge eintreten.
Magdalena blieb kaum Zeit, sich in dem beengten Wagen umzusehen. Rechter Hand, gegenüber dem einzigen Fenster an der Längsseite, flackerte eine Funzel. Im Vorübergehen warf sie einen übermenschlichen Schatten an die gegenüberliegende Wand. An beiden Wänden stapelten sich Bücher und Pergamentrollen wie die Steine einer Stadtmauer. Dazwischen allerlei seltsame Gerätschaften ohne erkennbaren Verwendungszweck. Auf dem Boden zwei Truhen und Kästen unterschiedlicher Größe. Kein Tisch, kein Schrank. Von einem Scherenstuhl abgesehen, der vernachlässigt und mit Büchern beladen in der Ecke stand, gab es kein Mobiliar.
Rudolfo forderte Magdalena auf, auf einem der Kästen Platz zu nehmen. Er selbst setzte sich, wohl um größer zu erscheinen, auf eine Truhe gegenüber.
»Du hast dir gewiss schon überlegt, welche Aufgabe du in der Gauklertruppe übernehmen könntest«, begann Rudolfo unvermittelt.
»Ei freilich«, erwiderte Magdalena prompt, obwohl das in keiner Weise den Tatsachen entsprach. Der erste Tag inmitten der Gaukler war viel zu aufregend gewesen, um darüber nachzudenken.
Was sollte sie tun? Auf dem Seil tanzen vielleicht? Dazu fehlten ihr Mut und Begabung. Und eine Frau auf dem Seil? Das hatte es noch nie gegeben. So etwas hätte das christliche Abendland erschüttert!
»Ich habe lesen, schreiben und nähen gelernt«, erwiderte sie, ohne lang nachzudenken. Das stimmte immerhin. Im Kloster Seligenpforten hatte sie mit besonderem Geschick die Nonnentrachten in Schuss gehalten. »Gaukler«, meinte sie, »brauchen ansehnliche Kostüme. Ich könnte mich darum kümmern.«
Von diesem Vorschlag zeigte sich Rudolfo einigermaßen überrascht: »Dein Ansinnen gefällt mir. Nur hast du vielleicht schon bemerkt, dass jeder von uns nicht nur einer Aufgabe nachkommt. Der Jongleur ist unser Küchenmeister, der Riese von Ravenna versorgt die Tiere, die Zwergenkönigin die Wäsche und Kostüme, und der Marktschreier unserer Menagerie ist sich nicht zu schade, bei den Pfaffen und Ratsherren um Geld zu betteln oder um Nahrung für Mensch und Tier, wenn Sturm und Regen oder ein strenger Winter uns an der Ausübung unserer Kunst hindern.«
Daran hatte Magdalena überhaupt noch nicht gedacht. Wie alles im Leben hatte offenbar auch das Gauklerleben zwei Seiten.
»Deshalb«, fuhr Rudolfo fort, »habe ich mir für dich eine besondere Aufgabe ausgedacht. Unserer Menagerie fehlen seit geraumer Zeit außergewöhnliche Attraktionen. Das Kalb mit zwei Köpfen lockt kaum noch jemanden hinter dem Ofen hervor. Ausunerfindlichen Gründen erblicken in jüngster Zeit allein im Fränkischen mehrere pro Jahr das Licht der Welt. Auch die Zwergenkönigin ist nicht mehr ohne Konkurrenz. Vom Unterlauf der Donau ist ein ganzer Stamm Zwerge in unsere Breiten eingewandert, ein paar Hundert kleinwüchsige Menschen, die sich gegen klingende Münze zur Schau stellen …«
»Aber du bist doch einmalig, Großer Rudolfo«, unterbrach Magdalena den Seiltänzer, »der Pöbel kommt, um dich zu sehen. Gewiss nicht allein deshalb, um eine drei Fuß kleine Frau zu begaffen!«
Rudolfo schüttelte den Kopf: »Das verstehst du nicht. Wir Gaukler leben von der Vielfalt, davon, dass wir dem Volk eine andere Welt vorgaukeln, eine Welt, die über den eigenen Horizont geht.
Weitere Kostenlose Bücher