Die Frau des Seiltaenzers
ich Rudolfos Wunsch nachkommen und als ›Samson aus der Neuen Welt‹ in seiner Menagerie auftreten.«
»Als ›Samson aus der Neuen Welt‹? Was musst du da machen?«
»Einen eisernen Amboss in die Luft heben und die Zuschauer auffordern, es mir gleichzutun. Wer es schafft, erhält zehn Gulden.«
»Das willst du tun? Verstehe mich recht, ich weiß, dass du ein kräftiger Kerl bist. Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Mensch einen Schmiedeamboss in die Luft stemmt – selbst du nicht!«
Melchior lachte: »Da hast du recht. Unter normalen Umständen ist das in der Tat unmöglich. Aber wir sind unter Gauklern, und unter Gauklern ist nichts so, wie es scheint. Natürlich verbirgt sich dahinter ein verblüffend einfacher Kunstgriff.«
»Also alles Schwindel!«
»Wenn du es so nennen willst?«
Die Fuhrleute mahnten zur Eile, und Magdalena und Melchior kletterten auf ihren Wagen. Mit dem blau-roten Wagen des Großen Rudolfo an der Spitze setzte sich der Gauklerzug in Bewegung. Ein kurzes Stück des Weges ging es einen sandigen Pfad entlang, der, weil die schmalen Räder tief einsanken, den Zugtieren das Letzte abverlangte. Die Fuhrleute ließen ihre Peitschen knallen. So erreichten sie den Waldrand. Vor ihnen, tief unten im Flusstal, lag Würzburg im Morgendunst. Die Silhouette wirkte filigran, gerade so, als sei die Stadt aus dem Hintergrund eines Gemäldes von Lucas Cranach herausgeschnitten.
Auf dem steil abfallenden Fuhrweg sahen sich die Pferde- und Ochsenknechte genötigt, den Wagen die Bremsschuhe anzulegen. Das waren Eisenplatten, die an einer Kette unter den Fuhrwerken mitgeschleift und bei Bedarf unter die Hinterräder gesteckt wurden, sodass diese blockiert wurden und im Stand talabwärts schleiften.
Am Ufer führte eine Straße zwischen dem Main und der Festung des Bischofs eine knappe Meile flussabwärts bis zur steinernenBrücke. Es fiel auf, dass kaum Menschen auf den Straßen waren, nur Landsknechte mit schweren Waffen, die die Brücke auf beiden Seiten bewachten. Die Gaukler schienen erwartet zu werden, denn die Wachposten winkten sie durch, ohne sich um ihre Ladung oder sie selbst zu kümmern.
Auf der Domstraße, einen Steinwurf vom Flussufer entfernt, trat ihnen ein Abgesandter des Truchsessen Georg von Waldburg entgegen und erbot sich, die Gaukler zum nahen Marktplatz zu geleiten, wo er der Truppe gegenüber dem Rathaus einen Lagerplatz zuwies. Der Platz war menschenleer. Es hatte den Anschein, als seien die Bewohner geflohen. Und dort, wo sich, selten genug, ein neugieriger Kopf hinter einem Fenster sehen ließ, verschwand er, sobald man ihn erspähte. Dabei waren die Gaukler Jubel, Lärm und Geschrei gewohnt, wenn sie in eine Stadt einzogen. Nicht einmal Kinder, die sich andernorts an die Gauklerwagen hängten wie Kletten an die Kleider, hatten sie zu Gesicht bekommen.
Wie gewöhnlich begannen die Fuhrleute mit dem Errichten der Wagenburg, hinter der sich die Tiere versammelten. Dabei hallten ihre Kommandos über den Platz und verbreiteten eine sonderbare, beinahe unheimliche Stimmung.
Wo waren die Bewohner der Stadt? Warum hielten sie sich in ihren Häusern verborgen? Wo immer die Gaukler bisher aufgetreten waren, hatte der Große Rudolfo die Massen angezogen. Die Menschen verehrten ihn wie einen Heiligen, der Wunder wirkend durch die Lande zog, und manche warfen sich vor ihm auf die Knie, weil sie glaubten, der in weiße Seide gehüllte Seiltänzer sei der Messias.
Massenhysterien waren nicht selten in diesen Tagen und äußerten sich auf verschiedenste Weise: In Erwartung des nahen Weltendes verschleuderten Gläubige allen weltlichen Besitz. Anhänger der Geißler kasteiten sich und peitschten sich und andere auf offenen Plätzen und Straßen, bis ihre Körper wund und blutig waren. Wieder andere zerstießen in Mörsern die vermeintlichen Reliquienirgendwelcher Heiliger und vermengten sie mit geweihtem Wasser, um mit der Einnahme des zubereiteten Breis Gesundheit oder bestenfalls die ewige Glückseligkeit zu erlangen. Und nicht wenige verfielen der Tanzsucht, wobei sie in aller Öffentlichkeit so lange hüpften und ihre Glieder verrenkten, bis sie erschöpft oder tot zu Boden sanken.
Dass Bewohner sich ihrer Stadt verweigerten, indem sie Straßen und Plätze mieden, das machte die Gaukler, die manche Absonderlichkeit gewohnt waren, ratlos.
Mit der Aufgabe betraut, Wasser aus dem Stadtbrunnen zu holen, machte sich Magdalena mit zwei großen Tonkrügen auf den Weg. Schon von
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