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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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obwohl die Fuhrknechte dem Vorgang schon Hunderte Male beigewohnt hatten, vermochte keiner, dem Seiltänzer diese Arbeit abzunehmen. Dasgalt im Übrigen auch für das Lösen des Knotens, das Rudolfo mit einem einzigen Handgriff gelang.
    Entgegen sonstiger Gewohnheit und auf ausdrücklichen Wunsch des Truchsessen Georg von Waldburg, hatte sich der Große Rudolfo dazu entschieden, den Domturm nicht in der Dämmerung und mit zwei brennenden Laternen in den Händen zu besteigen, sondern am helllichten Tage – für Rudolfo eine vergleichsweise leichte Aufgabe; doch dahinter steckte der Gedanke, die Würzburger mit Kind und Kegel aus ihren Häusern zu locken.
    Nachdem alle Vorbereitungen getroffen waren, begab sich Rudolfo zum Wagenlager auf dem Marktplatz und schloss sich in seinem Wagen ein. Für die Gaukler galt das als Zeichen, den Seiltänzer bis zu seinem Auftritt in Ruhe zu lassen.
    Längst hatten sie es aufgegeben, Überlegungen anzustellen, was wohl während der ein bis zwei Stunden vor jedem Auftritt in dem blauroten Gefährt geschah. Früher waren wilde Spekulationen ins Kraut geschossen, von denen inbrünstige Gebete für gutes Gelingen oder eine Mütze tiefen Schlafes zu den harmlosen Erklärungen gehörten; im Laufe der Zeit hatte man sich an die Zeremonie gewöhnt und ließ den Meister gewähren. Niemand wagte es, Fragen zu stellen. Und so erntete Magdalena auch völliges Unverständnis und böse Blicke, als sie ungestüm an Rudolfos Wagentüre klopfte, um ihn in Kenntnis zu setzen, dass die Würzburger Bürger die Gaukler aus naheliegenden Gründen nicht sehen wollten. Benjamino, der italienische Jongleur, kam eilends herbei und drängte Magdalena, ihr Vorhaben aufzugeben. Der Große Rudolfo bedürfe vor jedem Auftritt absoluter Ruhe. Das Publikum würde schon herbeiströmen, wenn er aufs Seil steige.
    Sichtlich erregt, trat der Quacksalber hinzu, in der einen Hand einen irdenen Topf, in der anderen ein Leinensäckchen unbekannten Inhalts, eine Ledertasche um den Bauch geschnallt. »In einer Stunde geht’s los«, meinte er vorwurfsvoll, »und dir fehlt noch jegliche Maskerade. Komm mit!«
    Magdalena folgte dem ›Buckel‹, wie sie den Quacksalber ob seines krummen Rückens nannten, nur widerwillig. Des jungen Riemenschneiders Bericht über die Zustände im Lande hatte Magdalenas Bedenken zerstreut, sich den Gauklern anzuschließen. Sie hatte keine andere Wahl. Sie musste über den eigenen Schatten springen und in der Menagerie die Rolle der lebendig Begrabenen übernehmen. Also ließ sie den Quacksalber gewähren, obwohl ihr der Mensch zutiefst zuwider war.
    In seinem Wagen forderte er Magdalena auf, ihre Haube abzunehmen und vor einer zwei Handspannen breiten und drei Handspannen hohen Glasscherbe, deren Rückseite mit schwarzer Farbe verdunkelt war, damit sie das Bild des Hineinblickenden zurückwarf, Platz zu nehmen und die Augen zu schließen. Während er erzählte, wie er Riemenschneiders Hände mit einer schmerzlindernden Salbe versorgt und auf einer Holzleiste bandagiert hatte, damit die gebrochenen Knochen vielleicht wieder gerade zusammenwüchsen, begann er Magdalenas kahlen Schädel, Stirn und Wangen, Hals und Schultern mit einer milchigen, klebrigen Masse einzureiben. Behutsam entnahm er dem Leinensäckchen eine Handvoll weißes, nicht übel riechendes Pulver und verrieb es mit beiden Händen über ihrem Kopf, sodass es staubte wie eine Dorfstraße nach acht Wochen Sommerhitze und auf der klebrigen Unterlage haften blieb. Sie solle unbesorgt sein, meinte der ›Buckel‹, noch bevor Magdalena die Augen öffnete, mit gewöhnlichem Wasser lasse sich die Maskerade leicht wieder abwaschen.
    Starr vor Schreck blickte sie in die Spiegelscherben auf ein Monstrum, ein widernatürliches Wesen, nicht anders als gerade aus dem Grabe auferstanden. Ein kurzer Aufschrei – dann verstummte sie und hatte nur noch Augen für ihr entstelltes Ebenbild. Als wollte sie sich vergewissern, dass sie nicht tot war, schloss Magdalena langsam die Augenlider und öffnete sie mit der gleichen Behutsamkeit. Ihre Pupillen drehte sie, ohne den Kopf zu bewegen, ebenso langsam von links nach rechts und wieder zurück.
    »Das weiße Gewand!«, holte der Quacksalber Magdalena ins Hier und Jetzt zurück. »Du musst noch das weiße Gewand anziehen.«
    Die gespenstische Ruhe, die seit der Ankunft der Gaukler über der Stadt lag, wurde plötzlich von fernem Paukenschlag und Trompetenschall unterbrochen. Der Lärm kam von der

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