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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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und man musste damit rechnen, dass die Neunzahl nicht mehr vollzählig oder einer durch einen anderen ersetzt sein würde.
    Als Rudolfo die schwere Eichentüre öffnete, verstummten die Gespräche der bereits Anwesenden wie das Murmeln eines Bächleins, dem das Wasser abgegraben wurde. Rudolfo nickte stumm und ohne ein Lächeln, denn der Anlass war ernst. Reden durfte nur der, der vom Primus das Wort erteilt bekam. Auch die Sitzordnung an dem langen Refektoriumstisch in der Mitte des schmalen, lang gestreckten Raumes unterlag strenger Vorschrift: An der Stirnseite vor zwei Fenstern, die von zwei schmucklosen Säulen geteilt wurden, hatte Erasmus Desiderius Platz genommen. Er galt als klügster Kopf seiner Zeit und war besser bekannt unter dem Namen Erasmus von Rotterdam, seinem Geburtsort in den Niederlanden.
    Die übrigen Unsichtbaren saßen sich am Tisch gegenüber: Secundus dem Tertius, Quartus dem Quintus, Sextus dem Septimusund Octavus dem Nonus, sodass Rudolfo als Quartus sofort seinen freien Platz erkannte.
    »Erlauchte Geister«, begann Erasmus, der Primus, hinter seinem tragbaren Schreib- und Lesepult, das er auf Reisen stets mit sich führte, und blickte mit kleinen listigen Augen in die Runde. Seine große, spitze Nase und die schmalen Lippen, dazu an Zeige- und Ringfinger seiner Linken zwei protzige, goldene Ringe, wiesen ihn eher als gewieften Advokaten oder Geschäftemacher aus denn als vergeistigten Gelehrten, Theologen und Schriftsteller.
    »Erlauchte Geister«, begann er in einer Mischung aus deutscher und lateinischer Sprache, »nachdem wir nun vollzählig versammelt sind, soll jeder Einzelne seine Anwesenheit mit Namen und Zahl kundtun und mit zum Eid erhobener Hand beschwören, dass er in den vergangenen neun Jahren gemäß der Satzung unserer Bruderschaft gelebt und unsere Aufgabe keinem Unbefugten zur Kenntnis gebracht hat. Dazu soll er die Formel sprechen: Tacent libri suo loco. 1 Secundus, bitte!«
    Secundus, ein dunkelhaariger bärtiger Mann von gerade mal dreiunddreißig Jahren, dessen Vollbart ihm jedoch das Aussehen eines Fünfzigjährigen verlieh, erhob sich und sprach: »Mein Name ist Pietro de Tortosa Aretino, gebürtig aus Arezzo. Dichter von Beruf, gefürchtet wegen seiner Schmähschriften, gelobt wegen seiner satirischen Komödien und bis vor vier Jahren am Hofe des Papstes Leo, im vorigen Jahr jedoch aus Rom verbannt wegen angeblicher Schamlosigkeit seiner Kurtisanen-Sonette. Tacent libri suo loco. « Dabei hob er die Hand zum Schwur.
    Darauf fand sein Gegenüber, Tertius, ein durchaus würdiger älterer Herr mit wallendem Haupthaar und schmalem Gesicht, die folgenden Worte: »Geboren wurde ich als Nikolaus Kopernik in einer eiskalten Februarnacht in Thorn im Ermland. Achtzehnjährig betrieb ich in Krakau astronomische, humanistischeund mathematische Studien, in Bologna lernte ich weltliches und geistliches Recht, in Padua und Ferrara wurde ich zum Doktor des Kirchenrechts und Doktor der Medizin. Seit zwei Jahren bin ich Bistumsverweser von Ermland und Deputierter des Domkapitels auf den …«
    »Das soll uns genügen!«, unterbrach Primus den Redefluss von Tertius.
    Sichtlich verstimmt fügte Kopernik hinzu: » Tacent libri suo loco. Das schwöre ich.«
    »Quartus hat das Wort«, bemerkte Primus kühl.
    Rudolfo erhob sich. Es war sein erster Auftritt vor dem erlauchten Gremium. Man konnte ihm ansehen, dass er nach Tertius’ Vorstellung verlegen war, als er sagte: »Ich bin Quartus, geboren vor einunddreißig Jahren zu Bamberg als Rudolf Rettenbeck, Sohn eines Flickschusters und einer Hebamme. Die bescheidenen Verhältnisse, in denen ich aufwuchs, ließen mir keine größeren Möglichkeiten als den Beruf eines Mainfischers zu erlernen. Aus eigenem Antrieb lernte ich bei einem Domstiftskanoniker lesen und schreiben und leidlich Latein, wofür ich ihn mit Mainfischen entlohnte, die ich von meinem eigenen Verbrauch abzweigte. Kaum den Kinderschuhen entwachsen, welche bei mir nicht aus Leder, sondern aus Rupfen und geflochtenem Stroh gefertigt waren, starben Vater und Mutter im Abstand von sechs Wochen an einer Seuche. Ohne Dach über dem Kopf schloss ich mich einer Gauklertruppe an, die zufällig des Weges kam. Als wir zwei Jahre später in Würzburg unsere Künste zeigten, ließ mich der Abt des Klosters Sankt Jakobus kommen, der schon mit einem Fuß im Jenseits stand, und trug mir ein Geheimnis an, von dem, wie er sagte, nur neun Auserwählte auf der Erde Kenntnis haben. Ich

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