Die Frau des Seiltaenzers
würdigen Erben weiterzugeben. Der konnte den Aufbewahrungsort nach eigenem Gutdünken bestimmen. Zwar stand es ihm frei, die übrigen Acht von der Lage des Verstecks in Kenntnis zu setzen. Verpflichtet war er dazu nicht. Und Trithemius war nicht der Erste, der dieses Geheimnis bis kurz vor seinem Tod für sich behalten hatte. So war ausgerechnet Rudolfo, der Seiltänzer, der Einzige, der wusste, wo die ›Bücher der Weisheit‹ verborgen lagen.
Neben Hohn und Spott hatte Rudolf Rettenbeck, der Sohn eines Flickschusters aus Bamberg, unter den Unsichtbaren, vor allem unter den erlauchten Geistern, großes Misstrauen geerntet. Schon die Mitgliedschaft des Wahrsagers Nostradamus und des Malers Grünewald hatte manchem abfällige Bemerkungen entlockt. Von ihnen hielt allerdings niemand den Trumpf in der Hand, den Aufbewahrungsort der ›Bücher der Weisheit‹ zu kennen. Und den hatte nun ausgerechnet ein Seiltänzer?
»Wart Ihr schon damals, als Trithemius Euch in das Geheimnis der ›Bücher der Weisheit‹ einweihte, ein Seiltänzer?«, fragte Erasmus nach langem, nachdenklichem Schweigen. »Sprecht die Wahrheit!«
Rudolfo schüttelte den Kopf. »Als Magier führte ich in der Menagerie der Gaukler Kunststücke vor wie das der schwebenden Jungfrau oder das Wandern einer Münze von einer Flasche in eine andere. Nichts Besonderes, aber es ernährte seinen Mann.«
»Und wie wurde aus dem – verzeiht mir meine Wortwahl – billigen Zauberer Rudolf Rettenbeck der Große Rudolfo?«
Die Frage des Primus stand wie zu Eis gefroren im Raum. Alle Augen waren auf Rudolfo gerichtet, nicht ohne Grund eine Erklärung fordernd, und jeder der übrigen acht Unsichtbaren wusste genau, warum Primus diese Frage gestellt hatte.
»Unter den Gauklern befand sich ein italienischer Jongleur«, antwortete Rudolfo. »In Kopfhöhe spannte er ein Seil, nicht länger als ein Gauklerwagen, und während er über das Seil ging, jonglierte er mit hölzernen Kugeln. Eines Tages versuchte ich mich auch auf dem Seil, aber ich fiel herab. Zwei Tage später versuchte ich es ein zweites Mal, und siehe da, es gelang, ich lief zehn Schritte über das Seil. So wurde ich zum Seiltänzer, zum Großen Rudolfo.«
»Papperlapapp!«, fuhr Erasmus dazwischen. »Es ist doch wohl ein Unterschied, zehn Schritte auf einem Seil ein paar Ellen über dem Boden zu laufen oder einen 300 Ellen hohen Turm zu besteigen, was im Übrigen, wie man hört, von anderen Seiltänzern als Ding der Unmöglichkeit erachtet wird. Es sei denn, der Seiltänzer bediene sich übernatürlicher Kräfte und habe seine Seele dem Teufel verschrieben. Oder …«
»Oder …?«, schallte es vielstimmig durch das lang gestreckte Refektorium.
»Oder der Seiltänzer gehörte zu den Neun Unsichtbaren und hat in den ›Büchern der Weisheit‹ den Hinweis auf ein Wundermittel gefunden.«
»Betrug ist das!«
»Quartus muss das Versteck preisgeben und das Bündnis verlassen!«
»Pfui Teufel, ein Seiltänzer!«
Die übrigen Unsichtbaren riefen erregt durcheinander.
Da wurde Rudolfo wütend, und in die Enge getrieben, rief er in seiner Not: »Eure Verdächtigungen, erlauchte Geister, gleichen einer Posse! Ohne jeden Beweis bezichtigt Ihr mich des Betrugs und der Verletzung unserer Gesetze, für deren Einhaltung jeder von uns den gleichen heiligen Eid geschworen hat. Beweist Eure Anschuldigungen, und ich will freiwillig den Weg zum Scheiterhaufen gehen!«
Von einem Augenblick auf den anderen wurde es still. »Quartus hat recht«, bemerkte Primus einlenkend, und an Rudolfo gewandt sagte er: »Ihr könnt uns alle Lügen strafen, wenn Ihr uns noch heute Eure Kunst vorführt.« Und mit erhobener Stimme fügte er hinzu: »Ohne ein Hilfsmittel zu gebrauchen!«
Daraufhin erwiderte der Seiltänzer, ohne an die Folgen zu denken: »Das trifft sich gut. Gewiss haben meine Gaukler schon das Seil gespannt, auf dem ich den Dom zu Mainz erklimmen will. Keine leichte Aufgabe im Übrigen, weil es eines Seiles von erheblicher Länge bedarf, um den Anstieg nicht zu steil werden zu lassen.«
»So sei es denn«, stimmte Erasmus dem Vorhaben zu. »Allerdings«, meinte er mit erhobenem Zeigefinger, »werden wir Euch von jetzt an nicht mehr aus den Augen lassen, damit Euch nicht noch einfällt, Euch geheimer Ingredienzien zu bedienen. Noch steht es Euch frei, das Vorhaben abzulehnen. Allerdings würden wir daraus unsere Schlüsse ziehen. Erreicht Ihr jedoch Euer Ziel, ist es für jeden von uns geboten, Abbitte zu
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