Die Frau des Seiltaenzers
sie es für möglich gehalten, dass die Nähe eines Mannes sie so beflügelte. Andererseits ließ seine Abwesenheit ein schmerzendes Verlangen in ihr wachsen. Rudolfos Gauklerwagen war für sie zu einem kleinen Paradies geworden, aus rohem Holz gezimmert, wie es schöner nicht sein konnte. Ihr wurde immer klarer, dass Rudolfo es war, der ihr, der einst schüchternen Novizin, ein Gefühl der Stärke verliehen hatte.
Inzwischen war es Abend geworden, und der Wirt entzündete die Funzeln an den Wänden, als die Türe aufging und eine Frau eintrat.
Xeranthe?
Magdalena stieß einen spitzen Schrei aus und kniff die Augen zusammen. Die Ähnlichkeit mit der Wahrsagerin war verblüffend. Wie zwei Geschosse prallten ihrer beider Blicke aufeinander. Magdalena wurde blass, und die fremde Frau erstarrte. Unbeweglich hielten beide für Sekunden inne, wie die Figuren in der Menagerie.
Der Marktschreier, der mit dem Rücken zur Türe saß, fragte verwundert: »Was hast du?«
Ohne Forchenborn anzusehen, den Blick voll Entsetzen geradeaus gerichtet, stammelte sie: »Das ist …« Sie hielt inne, denn die Frau in der Türe drehte sich um und verschwand. »… Xeranthe. Ich habe sie genau erkannt!«
Forchenborn drehte sich um und blickte zur Türe, die noch immer offen stand; dann beugte er sich über den Tisch und streichelte Magdalenas Hand.
»Xeranthe ist tot«, sagte er mit einem mitleidigen Lächeln. »Ich war Zeuge, als sie ihre Leiche eingegraben haben.«
»Aber …!«
»Kein Aber! Die letzten Tage waren wohl etwas zu viel für dich. Der Anschlag der Wahrsagerin und ihr Tod haben dich über Gebühr belastet. Und vermutlich hat dir das Bier die Sinne vernebelt. Glaube mir, Xeranthe ist tot.«
Magdalena schüttelte den Kopf. Sie sprang auf, rannte zur Tür und auf die Straße hinaus. Laut rief sie Xeranthes Namen, doch die Gasse war leer. Weit und breit keine Menschenseele.
11. KAPITEL
N ach scharfem Ritt erreichte Rudolfo das Kloster Eberbach. Er hatte sich, kaum waren die Gaukler in Mainz angekommen, im Morgengrauen auf den Weg gemacht. Niemandem, nicht einmal dem Marktschreier, der bei seiner Abwesenheit das Kommando führte, hatte der Seiltänzer sein Vorhaben verraten – und das nicht ohne Grund.
Ein Mönch in grauer Arbeitskutte versorgte das Pferd und wies Rudolfo den Weg. Das uralte Zisterzienserkloster, vor 400 Jahren als erste rechtsrheinische Niederlassung des Ordens gegründet, war eine kleine Stadt für sich, abgeschirmt von der Außenwelt. Es wirkte in seinem dumpfen Baustil eher wie ein Gefängnis als wie ein Hort heilsversprechender Glückseligkeit.
Als Erasmus Desiderius beim Abt von Eberbach angefragt hatte, ob er ihm und seinen Mitbrüdern, allesamt Größen des Geistes, ein Refektorium für einen Tag zur Verfügung stellen könne, um ungestört und ohne Ohrenzeugen über Luthers Thesen zu diskutieren, da hatte dieser bedenkenlos zugesagt. Immerhin ging dem großen Gelehrten der Ruf voraus, dass selbst Kaiser und Könige seine Nähe suchten. Dass Erasmus in seinen Schriften die Entartungen von Theologie und Kirche geißelte, war auch den Zisterziensern nicht unbekannt, fiel hier jedoch auf fruchtbareren Boden als bei den Bischöfen, Dompröpsten und Wanderpfaffen, die zum Geld ein ganz besonderes Verhältnis hatten.
Der Weg zum Refektorium – im Kloster gab es insgesamt drei –glich in der Waagerechten dem Gang durch ein Labyrinth und in der Senkrechten einem Auf- und Abstieg im Gebirge, weil die einzelnen Gebäudeteile im Laufe der Jahrhunderte nach Gutdünken ineinander verschachtelt, aufeinandergesetzt, abgerissen und neu gebaut worden waren. Ohne Führer hätte Rudolfo sein Ziel nie erreicht, denn aufgrund des ständigen Richtungswechsels im Dunkel der fensterlosen Korridore hatte der Seiltänzer längst die Orientierung verloren – der steinige Weg ins Jenseits konnte nicht aufreibender sein. Beinahe hatte Rudolfo den Glauben verloren, sie würden ihr Ziel überhaupt noch erreichen, da hielt der Mönch inne, machte stumm eine einladende Handbewegung zu einer spitzbogigen Türe im Hintergrund und verschwand lautlos.
Die eisige Stille, die in dem kalten Gemäuer herrschte, und das diffuse Licht hatten etwas Bedrohliches, und der Seiltänzer trat ein, ohne zu wissen, was ihn erwarten würde. Nach den ungeschriebenen Gesetzen der Neun Unsichtbaren trafen sich die Geheimnisträger alle neun Jahre, zuletzt im Jahre 1516 nach der Menschwerdung des Herrn in Konstanz. Seither war viel geschehen,
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