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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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niederzuschreiben gedenke. Tacent libri suo loco. «
    Als Letzter machte sich Nonus bekannt, ein Mann von asketischem Aussehen in ärmlicher Kleidung, der auch zum ersten Mal an einer solchen Zusammenkunft teilnahm.
    »Glaubt mir, erlauchte Geister«, begann er zögerlich, »es fällt mir nicht leicht, vor Euch zu sprechen, kann ich doch weder an Bildung noch auf andere Weise mit Euch in Wettstreit treten. Geboren wurde ich in Halle an der Saale als Mathias Gothard, besser bekannt als Grünewald, der Bildermacher. Mit neununddreißig Jahren wurde ich Hofmaler beim Erzbischof Ulrich in Aschaffenburg, sieben Jahre später nahm ich Arbeit und Brot bei Albrecht von Brandenburg und pinselte, was man von mir verlangte. Erst dieser Tage setzte mich der hochwürdigste Herr auf die Straße, weil sein Sekretär, der bigotte Joachim Kirchner, in meiner Werkstatt Schriften von Martin Luther entdeckte, welche ich mir aus purer Neugierde zu Gemüte geführt hatte. Ich floh nach Frankfurt, wo ich inzwischen Unterschlupf gefunden habe, und bitte Euch inständig, mich nicht zu verraten. Nun werdet Ihr fragen, wie einer wie ich zu einem der Neun Unsichtbaren wurde. Glaubt mir, das war nie mein Wunsch. Der große Hieronymus Bosch aus den Niederlanden wurde auf mich aufmerksam, weil wir beide, wenn auch auf unterschiedliche Weise, biblische Themen darstellten. Eines Tages trat er mir unerwartet gegenüber und meinte, ich sei der Rechte, sein Erbe als einer der Neun Unsichtbaren anzutreten. Er weihte mich ein in alle Geheimnisse, und, was soll ich sagen, drei Wochen später erreichte mich die Nachricht von seinem Ableben. Tacent libri suo loco. «
    Schweigsam und scheinbar ohne Regung hatten die Unsichtbaren die Reden der anderen verfolgt, nur Erasmus von Rotterdam kam nicht umhin, seine Zuneigung oder Bewunderung, bisweilen aber auch seine Besorgnis und seinen Unmut zu zeigen. Vor allem Rudolfo, der Seiltänzer, Paracelsus, der Wunderdoktor, und derHellseher Nostradamus hatten ihn, für jeden sichtbar, verstimmt. Deshalb begann er, über sein Lesepult gebeugt, mit zusammengekniffenen Augen, als würde er von der Sonne geblendet, leise, beinahe unverständlich zu sprechen: »Erlauchte Geister, zwar ist es dem Unsichtbaren, der ihren Aufenthaltsort kennt, erlaubt, die ›Bücher der Weisheit‹ zu lesen; sich ihres Inhaltes zu bedienen ist jedoch bei Strafe untersagt.« Immer lauter werdend, fuhr der Primus fort: »Ihr alle wisst, was das bedeutet, und solltet Ihr es vergessen haben, so will ich Euch in Erinnerung bringen, was mit Johannes von Heidenberg geschah, der sich Trithemius nannte, ein Okkultist geistlichen Standes.«
    Rudolfo rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her, und Erasmus sah ihn listig an. Der Seiltänzer fühlte sich genötigt, Primus’ Rede weiterzuführen: »Trithemius bediente sich der magischen Künste aus den ›Büchern der Weisheit‹, die ihm als Quartus anvertraut waren. Als Kaiser Maximilian aus Gram über den Tod seiner Gemahlin Maria von Burgund am Leben verzweifelte, versprach er dem Okkultisten ein Vermögen, falls er bewerkstelligen könne, Maria noch einmal zu sehen. Mit Hilfe seines Wissens um physikalische Dinge aus dem achten Buch der Weisheit, ließ er dem Kaiser tatsächlich ein Weib erscheinen, welches Maximilian als das seine erkannte. Dazu bediente er sich einer Würzburger Bürgersfrau, die Maria vom Äußeren nicht unähnlich war, setzte sie in eine Camera obscura, groß wie ein Kleiderkasten, und warf ihr bewegtes Bild durch ein Loch, nicht größer als das menschliche Auge, an eine weiße Wand. Von dem Geld, mit dem Trithemius vom Kaiser entlohnt wurde, hatte er nicht viel, denn ihn befiel eine seltsame Seuche, gefahrvoll wie ein schleichendes Gift. Trithemius lebte damals in der Abtei Sankt Jakobus in Würzburg und war schon vom Tode gezeichnet, als ich mit meiner Gauklertruppe dort ankam. Aus Gründen, die mir noch heute ein Rätsel sind, rief der Okkultist, sterbend, nach einem Gaukler. Ich suchte ihn in der Benediktinerabtei auf, und Trithemius, dem ich noch nie begegnet war, weihtemich ein in das Geheimnis der Neun Unsichtbaren. Noch bevor wir weiterzogen, starb der Mönch an der seltsamen Krankheit. Seither habt Ihr einen Seiltänzer in Euren Reihen. Soweit ich unterrichtet bin, kenne nur ich den Aufenthaltsort der geheimen Bücher.«
    Seit Jahrhunderten war es üblich, die ›Bücher der Weisheit‹ von ihrem jeweiligen Hüter, der als Einziger das Versteck kannte, an einen

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