Die Frau des Seiltaenzers
des Elixiers auf das Seil. Nie mehr!«
Vom großen Platz drang das immer lauter werdende Geschrei der Mainzer Bürger in den Gauklerwagen: »Wir wollen keinen Ablass, wir wollen den Großen Rudolfo seiltanzen sehen!«
Während Rudolfo und Magdalena noch ihren Gedanken nachhingen, kehrte Joachim Kirchner zu ihnen zurück und überbrachte mit gefalteten Händen die Nachricht, Seine Kurfürstliche Gnaden bitte inständig, der Große Rudolfo möge umgehend mit dem Seiltanz beginnen, andernfalls fürchte er einen Volksaufstand.
Kaum war Kirchner verschwunden, trat Rudolfo an die Bücherwand in seinem Gauklerwagen und entnahm ihm ein unscheinbares Buch mit braunem Ledereinband, nicht größer als eine Männerhand. Mit großen Augen beobachtete Magdalena, wie Rudolfo das Buch aufschlug, aber nicht, um darin zu lesen oder nach einer geheimen Formel zu forschen, nein, der Seiltänzer entnahm dem Buch eine gläserne Phiole vom Ausmaß eines Zeigefingers. Bei näherer Betrachtung entpuppte sich das Buch nämlich als eine Schatulle, in der das winzige Gefäß eingearbeitet war.
Abschätzend hielt Rudolfo die Phiole gegen das Licht, den bläulich schimmernden Inhalt prüfend. Dann träufelte er sich fünf Tropfen auf die Zunge, legte die Phiole in die Buchschatulle zurück und verstaute diese an ihrem angestammten Platz.
Augenblicke später schien es, als wechselte Rudolfo in eine andere Welt, als wäre er plötzlich ein anderer. Sein Blick wurde glasig und unstet. Magdalena kam es vor, als sähe er durch sie hindurch. Mit steifen Bewegungen schlüpfte er wie eine Marionette in sein weißes Seiltänzerkostüm und verschwand aus dem Wagen, ohne ein Wort zu verlieren.
Magdalena stand der Situation zunächst ratlos gegenüber, dann aber rückte der gestrige Tag in ihr Bewusstsein, und sie entschloss sich, wieder auf den Turm zu steigen, um Rudolfo in luftiger Höhe zu erwarten.
Auf dem kurzen Weg vom Gauklerlager zu der Stelle, wo das Seil um den Stadtbrunnen geschlungen und im Boden verankert war, drängten sich Menschentrauben um den Seiltänzer. Wie bei einem Heiligen zupften und zerrten sie an seiner Kleidung und riefen, nicht enden wollend: »Wir wollen keinen Ablass, wir wollen den Großen Rudolfo seiltanzen sehen!«
Unter Einsatz ihrer Ellenbogen drängte sich Magdalena zur schmalen Pforte des Glockenturms; doch die eisenbeschlagene Türe war verschlossen. Mit bloßen Fäusten hämmerte sie gegen das geschwärzte Eisen – vergeblich. Auch das Bischofsportal und das Liebfrauenportal zu beiden Seiten des Ostchores waren versperrt. Da entschied sich Magdalena, das Schauspiel in der Menge auf dem Marktplatz zu beobachten.
Als Rudolfo am großen Brunnen auf das Seil kletterte, verebbte das wilde Geschrei von einem Augenblick auf den anderen. Hunderte, Tausende Augen verfolgten jede Bewegung des Seiltänzers. Die äußeren Bedingungen, jetzt, um die Mittagszeit, konnten besser nicht sein. Die Hitze der vergangenen Wochen war verflogen, und kein Lüftchen wehte, welches das Seil in Schwingung versetzen konnte.
Anders als am Vortag entschied sich Rudolfo, nicht mit brennenden Fackeln zu balancieren, sondern das Gleichgewicht allein mit gestreckten Armen zu halten. Im Gegensatz zu all den Zuschauern um sie herum wusste Magdalena, dass diese Art der Balancierkunst die schwierigste war und höchstes Können erforderte.
Wie stets nahm der Seiltänzer die ersten Schritte mit hoher Geschwindigkeit, beinahe hektisch, bevor er, unter dem Beifall des Publikums, kurz innehielt und den Blick auf sein Ziel, das obere Fenster des Glockenturms, richtete, bevor er mit traumhafter Sicherheit weiter hinaufging. Auch Magdalena folgte dem weiten Weg mit den Augen und glaubte plötzlich im Schatten hinter der Fensterluke, durch die das Seil geschlungen war, eine Gestalt zu erkennen. Abgelenkt von den heftigen Bewegungen im Kampf um das Gleichgewicht, die der Seiltänzer scheinbar grundlos vollführte, ließ Magdalena die Erscheinung eine Zeit lang außer Acht; doch als sie wieder nach oben blickte, befiel sie die Angst, dass irgendetwas nicht stimmte.
Sie hielt die Hand zum Schutz vor dem grellen Sonnenlicht über die Augen und starrte angestrengt zur Turmspitze. Und plötzlich glaubte sie zu träumen. War es ein Trugbild, oder erschien in der Luke tatsächlich eine Faust im roten Handschuh mit einer brennenden Fackel? Langsam näherte sich die lodernde Flamme der Stelle, an der das Seil über die Fensterbrüstung nach unten lief. Magdalena
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