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Die Frau des Seiltaenzers

Die Frau des Seiltaenzers

Titel: Die Frau des Seiltaenzers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
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wollte schreien. Aber irgendetwas schnürte ihr die Kehle zu. Sie wollte mit gestrecktem Arm zur Turmspitze deuten, doch sie schien wie gelähmt, starr und unbeweglich.
    Von den zuckenden Bewegungen des Seiltänzers fasziniert, schien niemand zu bemerken, was auf dem Turm vor sich ging. Auch als von dem angekohlten Seil eine schwarze Rauchwolke aufstieg, fand kaum jemand unter den Zuschauern etwas daran. Man glaubte wohl, das gehöre zur Vorstellung, und der Große Rudolfo habe sich zur Aufgabe gestellt, die Turmspitze zu erreichen, noch bevor das Hanfseil zerriss.
    Mein Gott, warum geht er nicht weiter? Magdalena fieberte dem drohenden Unheil entgegen. Rudolfo blickte abwechselnd nach obenzur Turmspitze und zum großen Brunnen zurück, wo das Seil seinen Ausgangspunkt nahm. Längst hatte er bemerkt, dass das Feuer das Seil zerreißen und er abstürzen würde.
    Es blieb wenig Zeit zu entscheiden, ob er zurück oder weiter nach oben gehen sollte. Rudolfo entschied sich für letztere Möglichkeit – er befand sich etwa in der Mitte des Seils, und hinauf konnte er schneller gehen als hinunter.
    Auf dem Platz begannen die Zuschauer rhythmisch zu klatschen, um den Seiltänzer anzufeuern. Zur rettenden Turmspitze fehlten keine dreißig Schritte, als ein Ruck durch das Seil ging, der es heftig zum Schwingen brachte. Der Seiltänzer hielt inne. Kurz darauf ein zweiter Ruck. Den Gaffern stockte der Atem. Die Fackel war in der Fensterluke verschwunden.
    Und dann riss das Seil, krümmte sich wie eine gepeitschte Schlange. Der Seiltänzer stürzte erdwärts, riss die Arme auseinander, als wollte er fliegen, überschlug sich in der Luft. Mehrere Male. Man konnte meinen, er habe auch dieses Kunststück eingeübt. Die Gaffer stoben auseinander, dass sich ein kleiner Kreis in der Menge bildete. Mit einem dumpfen, klatschenden Geräusch schlug der Große Rudolfo auf dem Boden auf.
    Man hörte Schreie des Entsetzens, aber auch Beifall und Gelächter von jenen Gaffern, die glaubten, der Seiltänzer habe gerade das waghalsigste seiner Kunststücke vorgeführt und werde sich jeden Augenblick in der Menge erheben und Applaus heischend die Arme ausbreiten.
    Leise wimmernd und wild um sich schlagend, bahnte Magdalena sich einen Weg zu der Absturzstelle und warf sich über den leblosen Körper. Aus Rudolfos Mund und Ohren flossen dunkle Rinnsale. Dessen ungeachtet, bedeckte Magdalena sein Gesicht mit Küssen, nahm den Kopf in beide Hände und wiegte ihn hin und her, als wollte sie den Seiltänzer aus einem Schlaf wecken.
    Sie glaubte, ein feines Lächeln auf seinen Lippen zu erkennen, und unerwartet öffnete Rudolfo die Augen, blinzelnd und vomSonnenlicht geblendet. Sein Blick ging an Magdalena vorbei, als würde er sie nicht erkennen, und seine mühseligen Sprechversuche erstickten in einem grauenvollen Gurgeln.
    Plötzlich schoss ein Blutschwall aus seinem Mund hervor, der sein weißes Kostüm und Magdalenas Kleid von oben bis unten befleckte. Kaum war dieser versiegt, war die Stimme des Seiltänzers noch einmal deutlich zu vernehmen. »Clemens … tacent … libri … suo … loco …« Dann sackte sein Kopf leblos zur Seite.
    Von Weinkrämpfen geschüttelt, drückte Magdalena Rudolfos Linke an ihre Brust. Im Anblick des Todes überkam sie eine plötzliche Frömmigkeit, die sie schon verloren geglaubt hatte. Gott straft dich für deine Überheblichkeit, ging es ihr durch den Kopf. Hatte sie den Seiltänzer wirklich geliebt? Oder war sie nur neugierig gewesen auf das, was man Liebe nennt?
    Als sie, noch immer vor Rudolfo kniend, den Kopf hob und nach oben zur Turmspitze blickte, verschwammen die Konturen des Bauwerks zu Schlangenlinien. Da tauchte vor ihr die hagere Gestalt Joachim Kirchners auf. Der Sekretär des Fürstbischofs fasste sie an den Armen und half ihr auf die Beine. Magdalena wandte den Blick ab, sie konnte Kirchner nicht in die Augen sehen.
    »Wer hat das getan?«, stammelte sie leise vor sich hin. Sie erwartete keine Antwort, und doch wiederholte sie ihre Frage immer wieder: »Wer hat das getan?«
    Beinahe verzweifelt versuchte der Sekretär Magdalena zum Schweigen zu bringen, indem er seine Hand vorsichtig auf ihren Mund legte. »Wir werden den Mörder finden«, erwiderte Kirchner in seiner Hilflosigkeit, »seid versichert.«
    Vom Schmerz übermannt, riss sich Magdalena aus Kirchners Umklammerung, und in ihrer Verzweiflung rief sie, dass alle Umstehenden es hören konnten: »Dann beginnt am besten im Haus Seiner

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