Die Frau des Seiltaenzers
vom Papst in Rom erbeten hat zum Wohl seiner Schäflein. Ein Rheinischer Gulden das Blatt. Das ist viel Geld und doch wenig, wenn ihr bedenkt, was euch dieser eine Gulden erspart.«
Die drastischen Worte, die der Bußprediger mit schneidender Stimme vortrug, lockten immer mehr Zuhörer an, die sich nun schweigend um das Podest scharten und den Dominikaner furchtsam anstarrten.
In der andächtigen Stille ertönte plötzlich die Stimme eines stadtbekannten Trunkenbolds, dem es in beinahe zehn Jahren nicht gelungen war, sein ererbtes Vermögen dreier Stadthäuser zu versaufen: »He, Mönchlein, wie steht es eigentlich mit unserem hochwürdigsten Fürstbischof Albrecht, welcher der Wollust und Völlerei mehr anhängt als jeder andere Mainzer Bürger. Hat er nicht den vollkommenen Ablass notwendiger als wir alle? Zahlt er auch einen Gulden für das wertlose Papier? Oder sind die Sünden Seiner kurfürstlichen Gnaden schon vergeben, noch ehe sie begangen sind?«
Da begannen die eben noch bußfertigen Zuhörer zu feixen, und sie pufften sich grinsend in die Seiten. Der wortgewaltige Bußprediger bekam einen Kopf so rot wie eine Mohnblume im Kornfeld, und er rang, um eine Antwort verlegen, nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.
Die Frau des Totengräbers Gabriel, die, während ihr Mann die armen Seelen verscharrte, dem wollüstigen Gewerbe nachging, begann lauthals zu kreischen: »Wir wollen keinen Ablass, wir wollen den Großen Rudolfo seiltanzen sehen!«
In ihr rhythmisches Rufen stimmten zuerst ein paar Weiber ein, dann die Männer, und schließlich schallte es aus Hunderten Kehlen über den Platz: »Wir wollen keinen Ablass, wir wollen den großen Rudolfo seiltanzen sehen!«
Die übrigen Ablassverkäufer verstummten auf ihren Podesten ob des nicht enden wollenden Geschreis nach dem Seiltänzer. Nicht ein einziger Gulden fand den Weg in ihre Kassen.
Aus Furcht, von den Mainzern erkannt zu werden, zog sich Magdalena in das Gauklerlager hinter dem Dom zurück. Sie brannte darauf, zu erfahren, was am gestrigen Tag vorgefallen war. Und da Rudolfo sich zu keiner Erklärung bereitfand, stellte sie ihm unverhohlen die Frage, wer der Unbekannte im Turm gewesen und wie sein seltsames Verhalten zu erklären sei.
»Du hast sicher von Erasmus Desiderius gehört, besser bekannt unter dem Namen Erasmus von Rotterdam«, begann der Seiltänzer weit ausholend.
»Dachte ich mir’s doch«, fiel ihm Magdalena ins Wort. »Der Mann mit der spitzen Nase und dem markanten Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor. Jetzt weiß ich, woher ich seinen Kopf kenne. In der Bibliothek des Klosters Seligenpforten standen viele seiner Werke. Eines davon enthielt einen Kupferstich nach einem Porträt des Malers Holbein, Erasmus an einem Schreibpult. Es waren vor allem seine Hände, die mich beeindruckt haben: An der Linken trug er zwei protzige Ringe, einen am Ringfinger und den zweiten am Zeigefinger. Nicht uneitel für einen Theologen, der aus dem Kloster kommt und die Auswüchse des Klerikalismus anprangert. Aber warum in aller Welt bat dich der große Erasmus von Rotterdam um Verzeihung?«
Rudolfo schwieg lange, bevor er eine Antwort gab. »Erasmus«, erwiderte er schließlich, »ist einer der Neun Unsichtbaren. Um genau zu sein, er ist der Primus unter ihnen, und bei unserer Zusammenkunft im Kloster Eberbach tauchte der Verdacht auf, ich könnte mich bei meiner Kunst auf dem Seil unlauterer Machenschaften bedienen, wie sie in den ›Büchern der Weisheit‹ verzeichnet sind. Du weißt, dass das bei Todesandrohung verboten ist.«
»Mein Gott«, stammelte Magdalena und presste eine Hand vor den Mund. Und nach längerem Nachdenken fuhr sie fort:
»Das also war der Grund, warum die geheimnisvollen Männer vor deinem Auftritt nicht von deiner Seite wichen. Sie wollten verhindern, dass du das Elixier einnimmst. Aber wie hast du es dennoch geschafft …«
»Du meinst, wie ich an das Elixier herankam? Das kam ich nicht!«
»Was soll das heißen?«
»Ich stieg ohne einen Tropfen der wundertätigen Flüssigkeit auf das Seil.«
Verwirrt sah Magdalena Rudolfo ins Gesicht.
»Ja, es ist wahr. Ich hatte mit dem Leben abgeschlossen und starb tausend Tode, bis ich nach ein paar Schritten auf dem Seil bemerkte, dass ich kaum ins Straucheln geriet. Aber frage mich nicht, warum das so ist. Ich weiß es nicht.«
»Dann hat dir Erasmus mit Recht Abbitte geleistet!«
»Für dieses eine Mal – ja. Aber sei versichert, ich steige nie mehr ohne Einnahme
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