Die Frau des Seiltaenzers
verfolgte sie, wie Xeranthe einen langen, funkelnden Dolch, schmal wie ein Schilfrohr, aus dem Mieder ihres Gewandes zog und sich vor die Augen hielt.
»Er wollte mich töten«, zischte sie hasserfüllt.
Magdalena wich zurück. »Melchior wollte dich töten? Warum hätte er das tun sollen? Ich dachte, er hätte eher ein Auge auf dich geworfen.«
»Ach was! Er benützte mich nur als Vorwand, um dich eifersüchtig zu machen, was aber – wie wir beide wissen – kläglich misslang. Melchior war dir verfallen. Doch du hattest nichts Besseres zu tun, als dich Rudolfo an den Hals zu werfen. Da fasste ich den Plan, dich zu vergiften. Ich dachte mir, wenn ich Rudolfo nicht haben kann, sollst auch du ihn nicht haben. Als mein Plan scheiterte, muss Melchiors Hass auf mich grenzenlos gewesen sein. Eines Nachts weckten mich verdächtige Geräusche. Beißender Qualm strömte in meinen Gauklerwagen. Ich zweifelte keinen Augenblick, dass Melchior mein Gefährt in Brand gesetzt hatte und mich umbringen wollte. Auch war mir klar, dass er die Eingangstüre verbarrikadiert hatte. Allerdings konnte er nicht wissen, dass mein Karren über eine Besonderheit verfügte, eine Bodenklappe, zwei Ellen im Quadrat, durch die man das Nachtgeschirr entleeren konnte. Durch diese Klappe zwängte ich mich ins Freie. Ich sah Melchior in einiger Entfernung. Vorsichtig schlich ich mich an ihn heran. Diesen Dolch stieß ich Melchior von hinten zwischen die Schulterblätter, mitten ins Herz.« Wie vonSinnen fuchtelte Xeranthe mit der Waffe vor Magdalenas Gesicht herum.
Magdalena hatte Angst, Todesangst.
»Lautlos«, fuhr Xeranthe fort, »sank Melchior zu Boden. Da kam mir die Idee, seine Leiche in den Wagen zu zerren. Ich musste mich beeilen, denn die Flammen züngelten immer höher, und das Feuer konnte jeden Augenblick entdeckt werden. Noch während ich den toten Melchior in den Wagen wuchtete, hatte ich den Einfall, ihm meinen Stirnreif aufs Haupt zu drücken. Ihr alle solltet glauben, ich sei in meinem Gauklerwagen verbrannt. Und wie es scheint, ging mein Plan auf.«
Die Gefühllosigkeit und Kälte, mit der Xeranthe den Mord an Melchior schilderte, versetzte Magdalena in Angst und Bangen. Vergeblich versuchte sie, ihre zitternden Hände vor der Wahrsagerin zu verbergen, doch die setzte ihr das Messer an den Hals, und Magdalena erstarrte, unfähig sich zu wehren.
Gedankenfetzen jagten durch ihr Hirn: Wie könnte sie dieser Wahnsinnigen entkommen? Welches Ziel verfolgte sie? Warum gestand sie ihr das Verbrechen an Melchior? Hatte sie etwa auch Rudolfo auf dem Gewissen? Wie sagte sie doch? – Wenn ich Rudolfo nicht haben kann, sollst du ihn auch nicht haben!
Obwohl ihr die Frage auf der Seele brannte, wagte Magdalena nicht, sie zu stellen. Xeranthe drückte ihr das spitze Messer immer kräftiger gegen den Hals. Magdalena spürte, wie es die Haut aufschlitzte und ein Rinnsal warmes Blut hervortrat. In Todesangst setzten all ihre Gedanken aus.
Wie aus weiter Ferne vernahm sie eine bekannte Stimme: »Magdalena!« Dazu ein heftiges Klopfen an der Türe des Gauklerwagens.
Xeranthe, die den Dolch keinen Fingerbreit von ihrem Hals wegbewegte, gab Magdalena ein Zeichen zu antworten.
»Ja«, erwiderte sie zögerlich.
»Ich bin Kirchner, der Sekretär Seiner kurfürstlichen Gnaden, ich muss dringend mit Euch reden!«
Magdalena sah Xeranthe fragend an: Wie sollte sie sich verhalten?
Xeranthe nickte, was Magdalena als Zustimmung verstand, dem Wunsch des Sekretärs zu folgen.
Die Wahrsagerin zog den Dolch zurück, und Magdalena fühlte sich wie befreit, als sei ihr das Leben neu geschenkt.
»Was wollt Ihr zu so früher Stunde?«, rief sie durch die geschlossene Türe. »Es ist Nacht, und ich schlafe noch!«
»Ich weiß«, antwortete Kirchner. »Kleidet Euch an. Ich warte!«
Im gleichen Augenblick wurde Magdalena klar: Xeranthe saß in der Falle. Das gab ihr neuen Mut. Hurtig zog sie sich ein anderes Kleid an und machte Anstalten, den Gauklerwagen zu verlassen, als Xeranthe ihr in den Weg trat und sie an beiden Armen festhielt.
»Wage nicht, mich zu verraten!«, zischte sie im Flüsterton. »Früher oder später würdest du es bereuen!«
Magdalena nickte stumm und drehte den Schlüssel im Schloss um. Dann schlüpfte sie durch die Türe ins Freie und sperrte hinter sich ab.
Kirchner wartete, nicht weit entfernt auf einem Stapel Holzplanken sitzend, aus welchen die Fuhrknechte für gewöhnlich die Bühne der Menagerie zimmerten. Neben sich eine
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